Tiefe Einblicke in weithin unvertraute Abgründe abgestellter Existenz – auch in materiell prosperierenden Ländern – bietet Katharina in dieser Schilderung, in der sie zugleich die lebenswerten Zeitstrecken ihres Daseins quantifiziert:
„Im Interview von pro jure animalis schreibst du, daß im Grunde jeder, ob laut oder leise, klagt über die beschissenen Arbeitsverhältnisse und die geringe Rente und fehlende Hilfe im Alter.
Der Druck auf der Arbeit ist so hoch, ich wurde gekündigt, weil ich das hohe Arbeitspensum nicht mehr schaffte, und kam über ärztliche falsche Diagnosen in die Rente. In der Rente kriege ich auch keine Ruhe, weil man ständig wegen dem extrem geringen Existenzminimum tausend Bettelanträge bei der Kommune stellen muß, die erst mal alle abgelehnt werden: denied.
Mein immenses Leid sind meine eiskalten lieblosen Mitmenschen, die mich alle verrecken lassen, denen mein Leben völlig egal ist. Die Ärzte haben mich als psychisch krank abgestempelt, sie schrieben in Diagnosen, mit denen überall gearbeitet wird, ich hätte eine Persönlichkeits-Störung und ich sei hysterisch = offizielle Diagnosen, die in den Ämtern herumgereicht werden bei meinen Bettelanträgen. Ich denke, die Stadt will mich in den Wahnsinn treiben, damit ich aus ihrer Sicht ENDLICH Suizid begehe, dann ist die Stadt mich los und braucht mich nicht mehr versorgen.
Mein Leben ist der Stadt hier eine Last. Meiner Familie war ich eine Last und der Gesellschaft bin ich auch eine Last. Ich denke täglich: Hätte mich meine Mutter doch abgetrieben oder gar nicht bekommen, dann wäre mir dieses schreckliche tägliche Leid erspart geblieben. Die wenigen schönen Momente sind so selten, die sind in homöopathischen Dosen so gering, daß die in keinster Weise etwas aufwiegen. Nur der Suizid kann das Leiden hier beenden, und wieviele sehnen sich danach, um das Leiden zu beenden. In meiner Familie ist auch ein Fall von Suizid, weil keiner geholfen hat. Man schreit hier nach Hilfe, weil man alleine nicht zurechtkommt und der Druck der Existenz so groß ist, und alle lassen einen alleine. Wenn die Gesellschaft nicht so eiskalt lieblos wäre, dann könnte ich sagen, das Leben würde sich lohnen, aber jede Minute meines Lebens war umsonst. Das Leid in meinem Alltag beherrscht mich 99,9 Prozent.
Meine Mutter konnte nicht wissen, wieviel Leid mir dieses schreckliche Leben bringen würde. Sie hat mich auch nur auf Druck meines Vaters geboren, weil er wollte unbedingt einen Sohn als Nachfolger, damit sein Name weitergegeben werden kann = typisch, so wie in allen patriarchalen Ländern.
Angesichts des unermesslichen Leids in der Welt verlieren die überlieferten Antworten des Glaubens immer mehr an Überzeugungskraft. Die Antworten der Religionen verlieren an Überzeugungskraft
Sind wir Gott egal? Er schweigt und läßt Schreckliches zu.
Man kann ja nur schreien: Kümmert es dich nicht, daß wir zugrunde gehen?
Die Erfahrung, daß wir von Gott verlassen sind, daß er uns vergessen hat, daß er gar nicht existiert, machen viele Menschen. Die Erfahrung, daß Gott Schreckliches zuläßt –auf solch einen Gott kann ich gut verzichten. Der Comedian Dieter Nuhr sagte im ARD: Man könnte einen Gott ja gut gebrauchen, aber er ist ja nie da.
Eine schreckliche Religion der Christen, die sagt, Jesus wurde am Kreuz von Gott auch verlassen. Die Kirche meint, das sei vorbildlich, das sei unsere Hoffnung – alles schrecklicher Mist, was die offizielle Kirche da von sich gibt, eine Beleidigung für alle leidenden Kreaturen.
Du hast recht: das schrecklich ständige Gequatsche vom Glücklichsein ist reine Fluchtstrategie und reines Verdrängen der realen Zustände.
Ich schrieb ja gerade vorhin, daß mein Vater so patriarchal aufgewachsen ist = er ist griechisch-orthodox, und vor allem Söhne sind da wichtig. Da meine Mutter nur drei Mädchen bekam, ist mein Vater immer weggefahren, er war nie da für uns, und meine Mutter stand mit 3 kleinen Töchtern alleine ohne Auto in einer kleinen Wohnsiedlung, wir hatten da ein schreckliches Überleben, reines hartes Survival.“
Katharinas Ausführungen dokumentieren nicht bloß die Triftigkeit antinatalistischer Moraltheorie, sondern zudem, dass das Plädoyer für ein Verebben der Menschheit und für das Absehen von der Hervorbringung weiterer Menschen vom Streben nach einer postkapitalistischen Gesellschaft begleitet sein sollte.