Philosophische Anthropologie und Antinatalismus

Im Geiste der Neo-Gnosis von F. Rosenzweig zu P. W. Zapffe (Stand: 19.8.2023)

Als Ahnvater des Existentialismus entfaltete Kierkegaard (1813-1855) eine Wirkmächtigkeit, die sich bis in die Formulierungen des gnostischen Antinatalismus bei P. W. Zapffe hinein erstreckt. In seinem Buch DER BEGRIFF DER ANGST präsentiert Kierkegaard den Menschen als eine hochproblematische „Synthese“ aus Seele, Leib und Geist. Erst als Geistwesen kenne der Mensch Angst, die bei Kierkegaard einer Vielzahl an Konstellationen korreliert. So antworte der freiheitsbegabte Mensch auf das heranrückende künftig Mögliche – wodurch wir zuallererst so etwas wie eine Welt haben – mit ANGST. Wo Sartre sagen wird, wir seien zur Freiheit verurteilt, verortet Kierkegaard die Weltangst in der Angst vor der Freiheit. Auf Zapffe vorausweisend korreliert Angst vor dem In-der-Welt-Sein bei Kierkegaard bereits der – scheinbar – addressatenlosen Anklage, dass keine Person befragt wurde, ob sie zu existieren beginnen wolle. Diese Anklage ist nur scheinbar addressatenlos. Denn sie lässt sich folgendermaßen reformulieren und mit einem Addressaten versehen: Willst Du wirklich so handeln, dass ein der Weltangst verfallenes Wesen zu existieren beginnt, das sich fragt, warum es zu existieren beginnen musste? Interessanterweise ist für Kierkegaard bereits der Geburtsvorgang eine Angst-konstituierende Konstellation.

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Leserinnenbrief III

Tiefe Einblicke in weithin unvertraute Abgründe abgestellter Existenz – auch in materiell prosperierenden Ländern – bietet Katharina in dieser Schilderung, in der sie zugleich die lebenswerten Zeitstrecken ihres Daseins quantifiziert:

„Im Interview von pro jure animalis schreibst du, daß im Grunde jeder, ob laut oder leise, klagt über die beschissenen Arbeitsverhältnisse und die geringe Rente und fehlende Hilfe im Alter.

Der Druck auf der Arbeit ist so hoch, ich wurde gekündigt, weil ich das hohe Arbeitspensum nicht mehr schaffte, und kam über ärztliche falsche Diagnosen in die Rente. In der Rente kriege ich auch keine Ruhe, weil man ständig wegen dem extrem geringen Existenzminimum tausend Bettelanträge bei der Kommune stellen muß, die erst mal alle abgelehnt werden: denied.

Mein immenses Leid sind meine eiskalten lieblosen Mitmenschen, die mich alle verrecken lassen, denen mein Leben völlig egal ist. Die Ärzte haben mich als psychisch krank abgestempelt, sie schrieben in Diagnosen, mit denen überall gearbeitet wird, ich hätte eine Persönlichkeits-Störung und ich sei hysterisch = offizielle Diagnosen, die in den Ämtern herumgereicht werden bei meinen Bettelanträgen. Ich denke, die Stadt will mich in den Wahnsinn treiben, damit ich aus ihrer Sicht ENDLICH Suizid begehe, dann ist die Stadt mich los und braucht mich nicht mehr versorgen.

Mein Leben ist der Stadt hier eine Last. Meiner Familie war ich eine Last und der Gesellschaft bin ich auch eine Last. Ich denke täglich: Hätte mich meine Mutter doch abgetrieben oder gar nicht bekommen, dann wäre mir dieses schreckliche tägliche Leid erspart geblieben. Die wenigen schönen Momente sind so selten, die sind in homöopathischen Dosen so gering, daß die in keinster Weise etwas aufwiegen. Nur der Suizid kann das Leiden hier beenden, und wieviele sehnen sich danach, um das Leiden zu beenden. In meiner Familie ist auch ein Fall von Suizid, weil keiner geholfen hat. Man schreit hier nach Hilfe, weil man alleine nicht zurechtkommt und der Druck der Existenz so groß ist, und alle lassen einen alleine. Wenn die Gesellschaft nicht so eiskalt lieblos wäre, dann könnte ich sagen, das Leben würde sich lohnen, aber jede Minute meines Lebens war umsonst. Das Leid in meinem Alltag beherrscht mich 99,9 Prozent.

Meine Mutter konnte nicht wissen, wieviel Leid mir dieses schreckliche Leben bringen würde. Sie hat mich auch nur auf Druck meines Vaters geboren, weil er wollte unbedingt einen Sohn als Nachfolger, damit sein Name weitergegeben werden kann = typisch, so wie in allen patriarchalen Ländern.

Angesichts des unermesslichen Leids in der Welt verlieren die überlieferten Antworten des Glaubens immer mehr an Überzeugungskraft.   Die Antworten der Religionen verlieren an Überzeugungskraft

Sind wir Gott egal? Er schweigt und läßt Schreckliches zu.

Man kann ja nur schreien: Kümmert es dich nicht, daß wir zugrunde gehen?

Die Erfahrung, daß wir von Gott verlassen sind, daß er uns vergessen hat, daß er gar nicht existiert, machen viele Menschen. Die Erfahrung, daß Gott Schreckliches zuläßt –auf solch einen Gott kann ich gut verzichten. Der Comedian Dieter Nuhr sagte im ARD: Man könnte einen Gott ja gut gebrauchen, aber er ist ja nie da.

Eine schreckliche Religion der Christen, die sagt, Jesus wurde am Kreuz von Gott auch verlassen. Die Kirche meint, das sei vorbildlich, das sei unsere Hoffnung – alles schrecklicher Mist, was die offizielle Kirche da von sich gibt, eine Beleidigung für alle leidenden Kreaturen.

Du hast recht: das schrecklich ständige Gequatsche vom Glücklichsein ist reine Fluchtstrategie und reines Verdrängen der realen Zustände.

Ich schrieb ja gerade vorhin, daß mein Vater so patriarchal aufgewachsen ist = er ist griechisch-orthodox, und vor allem Söhne sind da wichtig. Da meine Mutter nur drei Mädchen bekam, ist mein Vater immer weggefahren, er war nie da für uns, und meine Mutter stand mit 3 kleinen Töchtern alleine ohne Auto in einer kleinen Wohnsiedlung, wir hatten da ein schreckliches Überleben, reines hartes Survival.“

Katharinas Ausführungen dokumentieren nicht bloß die Triftigkeit antinatalistischer Moraltheorie, sondern zudem, dass das Plädoyer für ein Verebben der Menschheit und für das Absehen von der Hervorbringung weiterer Menschen vom Streben nach einer postkapitalistischen Gesellschaft begleitet sein sollte.

Leserinnenbrief II

In einem weiteren Schreiben schildert Katharina stellvertretend für eine ebenso unterrepräsentierte wie große Bevölkerungsgruppe die Unerträglichkeit der totalverwalteten Existenz:

„Seit 1998 habe ich mehr Stress durch Ärger mit Ämtern, mit abgelehnten Anträgen, das ist mehr Stress als wenn ich eine Arbeitsstelle hätte. Beispielsweise muß man als Arbeitsloser zwei Mal im Jahr zum Rathaus, um die GEZ-Rundfunkgebühren ermäßigt zu bekommen. Dann viel Lauferei zur Krankenkasse und anderen Ämtern. Deshalb kommt mein Körper nicht zur Ruhe und ich kann wegen der fehlenden Ruhe nicht mehr einschlafen und habe extreme Schlafstörungen, so daß ich schon deshalb keine normale Arbeitsstelle mehr schaffe. Ich bin der heutigen PC-Technik nicht mehr gewachsen. Ich schaffe gerade eine E-Mail und ein paar YouTube-Videos anschauen und Wikipedia lesen, aber was heutzutage im Beruf an Fachkenntnis erwartet wird, schaffe ich alles nicht. Als ich Kind war, hatten wir als Familie noch nicht mal ein Telefon, und bis nach dem Jahr 2000 war meine größte technische Errungenschaft ein Walkman mit Cassette, die war noch simpel zu bedienen. Im Beruf konnte ich noch an der Schreibmaschine tippen, aber seitdem der Computer in den Büros Einzug hielt, schaffte ich die neuen Erwartungen der Arbeitgeber nicht mehr.“

Leserinnenbrief

Katharina schreibt:
„Was Kinder in die Welt setzen für mich außerdem bedeutet: 

Die extremen Schmerzen beim Akt des Kinderkriegens sind für Mutter und Kind ganz schrecklich. 

Ich verstehe die Frauen dieser Welt nicht, wie sie das machen. Ich höre von Müttern nur, daß wenn das vorbei war, sie damit umgehen konnten.

Ich jedenfalls habe mir das nie zugetraut und wollte solche Schmerzen nie durchmachen.

Auch dieser für mich wichtige Grund hat mich nie an Kinderkriegen ernsthafter denken lassen. 

All mein Denken fokussierte sich darauf, wie ich unter allen Umständen alles dransetzen muß, um diesen Geburtsschmerz nie durchleben zu müssen. 

Für mich ist es schon sehr ungerecht, wenn nur die Frauen diesen fürchterlichen Geburtsschmerz leiden müssen, aber die Männer nicht. 

Wenn die Pfarrer von der Kanzel ständig predigen, man solle Gott „danken“, weil er alles so gut gemacht hat, dann kriege ich die Krise, das ertrage ich nicht diesen Schmarrn anzuhören. 

Wofür soll Gott danken? Daß er mich als Frau in dieser schrecklichen Realität alleine läßt? Daß er sie mir zumutet?

Und auch der für Frauen schlimme Geburtsschmerz, dafür danke ich Gott überhaupt nicht, und das hat er auch gar nicht gut gemacht !!! Wenn Gott etwas hätte gut machen sollen, warum hat er dann das Kindergebären nicht schmerzfreier machen können?

Denn auch für das Kind selber muß dieser schreckliche Vorgang ja traumatisch schlimm sein:

Das  Kind muß ja bestimmt schlimme Schmerzen leiden, wenn es durch den Geburtskanal gedrückt wird, da wirken ja starke Kräfte auf das kleine arme Kind.

Dann muß das Kind auch noch die Schreie der Mutter mit anhören, während es aus dem Mutterleib kommt. Die Schreie der Mutter und die Schmerzen durch die Kräfte im Geburtskanal leibhaftig mitzuerleben, da muß doch im Gehirn vom Kind totaler Alarmzustand herrschen !!!

Die Menschen sagen immer so locker, das hätte niemandem geschadet, aber da bin ich mir nicht sicher, ich vermute stark, daß das jedem irgendwo hat schaden müssen, nur tun es alle verdrängen – Du sagtest ja schon mal, daß die Leute alle gut sind im Verdrängen.“

In der Tat schrieb der Autor Nemilow ein ganzes Buch über DIE BIOLOGISCHE TRAGÖDIE DER FRAU und Otto Rank schrieb ein Buch mit dem Titel DAS TRAUMA DER GEBURT.

Nimmerland

In ihrem Buch ICH FREUE MICH, DASS ICH GEBOREN BIN schildert Birgit Vanderbeke eine interessante Variante des modernen Mythos von der Präexistenz:

„Das Geborenwerden hatte Onkel Winkelmann mir erklärt. Man musste es sich etwa so vorstellen: Erst schwimmt man mit all den anderen, die noch nicht geboren sind und von denen die meisten sowieso auch nie geboren werden, als durchsichtige Kaulquappe im großen schwarzen Teich Ewigkeit irgendwo im Nimmerland herum. […] Jedenfalls wird man aus dem großen schwarzen Teich Ewigkeit rausgefischt, und die anderen bleiben einstweilen oder für alle Zeiten drin, und es sind wirklich viele, die drinbleiben müssen und vielleicht niemals herausgefischt werden.“

Die Mutter sang später das Lied „Wir freuen uns, dass du geboren bist / Und hast Gebuhurtstag heut.“ Aber: „Meine Mutter hatte eine sehr hohe Stimme, die leicht piepsig werden konnte, und sie sang diesen Gebehurtstag so hoch und piepsig, dass ich dachte, sie würde gleich losheulen…“ (Piper Verlag 2016, S. 40ff) Humorvoll bringt die Autorin zum Ausdruck, dass hier perinatal etwas nicht stimmt: Der Verbleib im Nimmerland ist nicht schrecklich genug, um es einem Kind begreiflich zu machen, dass man daraus befreit werden sollte; und das Geburtstagslied hat schon für Kinder erkennbare unehrliche Beimischungen.