Antinatalismus im Alten Ägypten, in jüdischer, christlicher, islamischer und gnostischer Religion

Einleitung

Der nachfolgende Text ist die überarbeitete Version eines Vortrags, den ich am 30. August 2022 auf Einladung interessierter Studenten an der Universität Hamburg hielt.[1] An der Universität Hamburg hatte ich 1997 eine Habilitationsschrift eingereicht, die 2000 Unter dem Titel Verebben der Menschheit? Neganthropie und Anthropodizee veröffentlicht wurde. In meiner Habilitationsschrift begründete ich das Gebot der Nachkommenlosigkeit unter anderem mit einer ontoethischen Asymmetrie:

„Wenn wir niemanden hervorbringen, dann ist eben keiner da, dem wir die Existenz oder Glück oder sonst etwas vorenthalten hätten. Werden hingegen Menschen hervorgebracht, so werden unter ihnen auch welche sein, die unerträglich leiden; und es hätte in unserer Hand gelegen, dieses Maß an Leid zu verhindern. Jetzt können wir nicht sagen, alles Leid werde doch durch das Glück kompensiert, weil das Leid im Falle der Hervorbringung ein reales Malum darstellt, das nicht realisierte Glück im Falle der Nichthervorbringung (unsere Elternwünsche einmal beiseite gesetzt) aber kein Malum darstellt. Das Leid wird von einer hervorgebrachten Person durchlitten werden, wohingegen nichtvorhandenes Glück im Falle der Nichthervorbringung aber nicht als ein vorenthaltenes Glück betrachtet werden kann. Wir können dies das ontoethische Schwererwiegen des Leids nennen. Die ontoethische Überlegenheit des Leids über das Glück bedeutet ferner: Es gibt Gründe, „jemanden“ in Ansehung künftiger Leiderfahrungen nicht hervorzubringen – es gibt keine Gründe, „jemanden“ in Ansehung künftiger Glücksmomente hervorzubringen.“

Meine Verteidigung der Auffassung, dass es besser ist, keine neuen Menschen hervorzubringen, stieß bei einigen Gutachtern auf Unverständnis. Die Arbeit wurde 1997 mehrheitlich abgelehnt. Somit fand der folgende Vortrag genau 25 Jahre nach Ablehnung der Habilitationsschrift statt, in einer Zeit, die dem Antinatalismus weitaus günstiger gesonnen ist. Erstmals seit 25 Jahren befand ich mich wieder in einem Seminarraum der Universität Hamburg und hatte es mit einem überaus interessierten Publikum aus Studenten unterschiedlicher Fachbereiche zu tun.

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„Antinatalismus in jüdischer, christlicher und gnostischer Religion“ ist das Thema dieser Veranstaltung. Lassen Sie uns also zunächst einmal die Frage aufwerfen, worin das Wesen von Religion bestehen könnte. Ludwig Feuerbach (1804–1872) wird heute noch erinnert als der Autor des bekannten Titels „Das Wesen des Christentums“. Doch äußerte er sich auch zum Wesen monotheistischer Religion im Allgemeinen. In seiner Abhandlung „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“ fragt Feuerbach in Ansehung von Gott:

„Denn worin anders als in den Schmerzen und Bedürfnissen des Menschen hat dieses schmerzen- und bedürfnislose Wesen seinen Grund und Ursprung? Mit der Not des Bedürfnisses und Schmerzes fällt auch die Vorstellung und Empfindung der Seligkeit. Nur im Gegensatze zur Unseligkeit ist die Seligkeit eine Realität. Nur im Elend des Menschen hat Gott seine Geburtsstätte.“

(Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 137. In: Anthropologischer Materialismus, ausgewählte Schriften Bd. 1, Ullstein 1985)


Wie sehr der junge Marx (1818–1883) noch Feuerbach-Schüler ist, wird deutlich, wenn wir einen essentiellen Satz seiner Religionskritik unmittelbar vor dem Hintergrund derjenigen Feuerbachs lesen:

„Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“

(Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, S. 378)

Wenn zutrifft, dass die Religion „das Opium des Volks“ ist, was wäre dann die Philosophie im Hinblick auf die Religion? Mit einigem Recht ließe sich Philosophie als eine Entzugskur oder – besser noch – als das Gehirn der Religion darstellen. Ein Gewährsmann für eine solche Deutung ist Hegel (1770–1831): „In der Philosophie erhält die Religion ihre Rechtfertigung vom denkenden Bewusstsein aus.“ (Vorlesungen über die Phil. d. Rel. II, Suhrkamp, Werke Bd. 17, S. 341)

Für die weiteren Ausführungen sollte uns gegenwärtig sein: Gerade auch in Gestalt des Antinatalismus ist die Philosophie ein Gehirn der Religion. – Ein Gehirn, durch dessen Tätigkeit im Medium des Religiösen nur angedeutete und subversive Einsichten in die Vorzugswürdigeit eines Aussterbens der Menschheit auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit festgehalten, positiv aufbereitet und reklamiert werden.

Hält man sich an die Metapher vom Opium des Volks, so ist zu konstatieren, dass die Abhängigkeit von der sogenannten „Droge Religion“ kaum jemals eine unverbrüchliche Abhängigkeit gewesen ist. Immer schon gab es auch innerhalb der Glaubenswelten monotheistischer Religionen reflektierende philosophierende Lichtblicke, die das Elend der Welt wegweisend in Richtung auf das verarbeiteten, was später einmal „Anti-Prokreationismus“, das „Verebben der Menschheit“ oder „Antinatalismus“ genannt werden sollte. Religion war niemals bloß opioide Verblendung (beispielsweise zur Herrschaftssicherung), sondern immer auch eine unbewusste Strategie zur Bewältigung zwischenmenschlicher und naturbedingter Gewalt. Im Rahmen einer umfassenden Philosophie der antinatalistischen Formen ist Religion als Instanz zu würdigen, in der proto-antinatalistische Einsichten gewonnen und schriftlich fixiert wurden.

Nach Hegel ist Geschichte wesentlich der menschheitliche Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Unter antinatalistischen Vorzeichen lässt sich die menschliche Geschichte in Anlehnung an diesen Satz von Hegel spezifizieren als Fortschritt im Bewusstsein des Nichtseinmüssens von Menschen. Denn fern davon, nur opioide Verblendung zu sein oder gar bewusster Verschleierung zu dienen, sind Religionen immer auch Orte von Rationalitätsgewinnen – wie Habermas dies zuletzt umfänglich in seinem Werk Auch eine Geschichte der Philosophie (2019) dargelegt hat. Auch wenn es unter antinatalistischen Gesichtspunkten geboten ist, in der Philosophie das Gehirn der Religion zu sehen, so wird eine diskursive Auflösung dessen, was Marx die „Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs“ nannte, bereits in der Dimension des Religiösen vorbereitet und eingeleitet. Vor diesem Hintergrund ist nun mit Blick auf die jüdische und die christliche Religion zu fragen, inwieweit sie als Stationen auf diesem Fortschrittsweg zu würdigen sind.

Jüdischer Pronatalismus

Vielleicht ist es nicht ganz abwegig, in der jüdischen Religion die pronatalistischste unter allen Religionen zu erkennen. Das Mehrungsgebot der Genesis steht symptomatisch dafür. Kultursoziologisch ließe sich der dezidierte Pronatalismus des Judentums daraus herleiten, dass die jüdischen Gemeinden ihren Pronatalismus von nomadischen Vorgängern erbten, für deren Fortbestand eine gewisse Unversehrtheit der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs konstitutiv war. Und doch beinhaltet auch die ins Alte Testament eingeflossene jüdische Überlieferung einen gewissen Daseinsprotest, der über einen Zeitraum von mehr zweieinhalb Jahrtausenden bis in unsere Gegenwart wirkmächtig geblieben ist. In diesem Daseinsprotest mit seinen Nativitätsverfluchungen können wir metaphysische Revolten gegen die Substanz des Mythos von Sisyphos erkennen, die in einem Vorhof zum Antinatalismus stattfinden. Wobei Sisyphos die Gestalt ist, die – sich fortzeugend – den Stein des Leidens immer wieder bergan rollt, auf dass er die nächste Generation erfasst.

Biblischer Proto-Antinatalismus

Jeremias

Die vermutlich in den Jahrzehnten um 550. v. Chr. entstandenen Jeremiaden zeugen von einer hohen Kultur der Nativitätsverfluchung. Nachfolgende Zitate stammen aus dem 20. Buch des Jeremias:

„14 Verflucht sei der Tag, darin ich geboren bin; der Tag müsse ungesegnet sein, darin mich meine Mutter geboren hat!“ „15 Verflucht sei der, so meinem Vater gute Botschaft brachte und sprach: »Du hast einen jungen Sohn«, dass er ihn fröhlich machen wollte!“

Handelt es sich bei obigen Nativitätsverfluchungen um toposhafte oder gnomische Standardversionen, so repräsentieren die beiden folgenden Niegeborenseinswünsche den seltenen Sonderfall eines präferierten Todes und Verbleibs in utero:

„17 Dass du mich doch nicht getötet hast im Mutterleibe, dass meine Mutter mein Grab gewesen und ihr Leib ewig schwanger geblieben wäre!“ „18 Warum bin ich doch aus Mutterleibe hervorgekommen, dass ich solchen Jammer und Herzeleid sehen muss und meine Tage mit Schanden zubringen!“ (Luther-Bibel 1912, Der Prophet Jeremia, Jer 20, 14 ff.)

Um das Fortwirken Jeremiadischer Niegeborenseinswünsche bis in die Moderne zu belegen, genüge hier der Verweis auf den französischen Autor Léon Bloy (1846-1917), der in seiner „Exégèse des lieux communs“ notiert:

„Ich gestehe, dass allein schon der Gedanke an ein Kind, dass wünschte, geboren zu werden, etwas Beunruhigendes hat, und jetzt verstehe ich auch den Propheten Jeremias besser, der bedauerte, dass seine Mutter nicht ewig mit ihm schwanger ging, ohne ihn jemals gebären zu können.“ [2]

Sehr viel präsenter noch als Jeremias und die immerhin sprichwörtlich gewordenen Jeremiaden ist in der europäischen Kulturgeschichte das Buch Hiob.

Hiob

Das Buch Hiob ist ein denkwürdiger Ort biblischer Weisheitsliteratur an dem Gott und Elternschaft im Vorhof des Antinatalismus in den Einzugsbereich der Kritik geraten. Hiob erfährt, dass selbst ein gottgefälliges Leben nicht garantiert, dass uns schweres Leid fern bleibt, weshalb er zweigleisig sowohl mit dem Schöpfer wie mit den Eltern hadert. Ähnlich wie Jeremias wird der Tod in utero dem Geborensein vorgezogen – und selbst eine Fehlgeburt sei immer noch besser als reguläres Geborenwordensein (nachfolgende Zitate aus Hiob, Buch 3):

„3 Der Tag müsse verloren sein, darin ich geboren bin, und die Nacht, welche sprach: Es ist ein Männlein empfangen! […]

11 Warum bin ich nicht gestorben von Mutterleib an? Warum bin ich nicht verschieden, da ich aus dem Leibe kam?

12 Warum hat man mich auf den Schoß gesetzt? Warum bin ich mit Brüsten gesäugt?

13 So läge ich doch nun und wäre still, schliefe und hätte Ruhe

[…] 16 wie eine unzeitige Geburt, die man verborgen hat, wäre ich gar nicht, wie Kinder, die das Licht nie gesehen haben. […]

20 Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen.“
(Luther-Bibel 1912, Das Buch Hiob, Hi 3, 3 ff.)

Die Achsenzeit als Durchbruch zur Daseinsverneinung?

Jeremias wie auch Hiob fallen weltgeschichtlich in eine unter nativitätskritischen Gesichtspunkten überaus interessante Epoche, die Karl Jaspers (1883–1969) die Achsenzeit nannte. Grob gefasst bezeichnet Jaspers mit diesem Ausdruck die Jahrhunderte etwa von 800 bis 300 vor Christus. Jaspers charakterisiert die Grundzüge der Achsenzeit folgendermaßen:

„In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, – in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne dass sie gegenseitig voneinander wussten. Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, dass der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. Er erfährt die Furchtbarkeit der Welt und die eigene Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen. Er drängt vor dem Abgrund auf Befreiung und Erlösung.“ (Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Piper 1983, S. 20)

In der diverse Kulturen übergreifenden Epoche der Achsenzeit, so Jaspers, erfährt der Mensch die Furchtbarkeit der Welt und sucht nach Befreiung und Erlösung. Jeremias und Hiob, von denen oben die Rede war, fallen in die Achsenzeit. Wie gezeigt, stehen sie für proto-antinatalistische Durchbrüche hin zum Wunsch einer Befreiung von der unerträglichen Schwere des Daseins. Jeremias und Hiob sind existentielle Aufrührer, sie stehen für eine metaphysische Revolte gegen das notwendigerweise stets nicht-konsensuelle Daseinmüssen.

Jaspers‘ Einordnung der Achsenzeit legt es nahe, einmal näher zu prüfen, inwiefern das Schema „Einsicht in die Furchtbarkeit der Welt à Durchbruch zur Daseinsverneinung“ tatsächlich erstmals in der bezeichneten Epoche auftrat. Denn die altorientalischen Reiche liegen vor der Achsenzeit. Somit steht die Frage im Raum, ob die Achsenzeit wirklich die uns bekannten diversen Durchbrüche zur Daseinsverneinung umspannt. Zunächst spricht einiges dafür. Denn wir finden die israelischen Propheten in zeitlicher – wenngleich bei Jaspers nicht in kausaler – Nähe zur Daseinsverneinung in Indien und bei den griechischen Tragikern.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass für das Buch Hiob ältere sumerische und babylonische Vorbilder geltend gemacht werden können. Der Sumerische Hiob mit seiner Leid-Klage datiert etwa 2000 v. Christus, und die zwischen 1000 und 800 v. Chr. entstandene Babylonische Theodizee handelt von den Leiden eines Gerechten an der Ungerechtigkeit der Welt (für Näheres siehe: Dorothea Sitzler, Vorwurf gegen Gott. Ein religiöses Motiv im Alten Orient (Ägypten und Mesopotamien)). Gegen eine Deutung wonach ein proto-antinatalistischer Durchbruch zum Daseinsprotest „erst“ in der sogenannten der Achsenzeit stattfand, spricht ferner der Umstand, dass Niegewesenseinswünsche bereits aus dem Alten Ägypten überliefert sind. So heißt es im Klagetext des Ipuwer vor vielleicht 4000 Jahren vor Christus:

„Alte und Junge sagen: Ich wünschte, ich wäre tot! Kleine Kinder sagen: Man hätte mich nie ins Leben rufen sollen!“ (Zitiert in Peter Jacob, Lieber Herr Jacob. Oder vom Glück, nicht geboren zu sein. Eine allgemeine pessimistische Weisheit und ihre Geschichte, Tübingen 1999, S. 135) Übrigens mögen diese altägyptischen Geburtsverwünschungen durch einen noch älteren Text von ca. 2500–2800 v. Chr. vorbereitet worden sein, nämlich durch das – von einem Wesir verfasste – älteste bekannte philosophische Werk, das da heißt „Lehren des Ptahhoteb“, worin unsere Sterbensgebürtlichkeit erfasst wird: „Das Alter ist herabgestiegen, die Glieder werden leidend, und das Altsein tritt als Neues auf… Man mag stehen oder sitzen, man befindet sich übel…“ (Zit. in Peter Jacob, S. 121)

Die von Ipuwer überlieferten Niegewesenseinswünsche dokumentieren, dass Niegewesenseinswünsche älter sind als die Achsenzeit und passen somit zur Einschätzung von Jan Assmann (*1938) in seinem Buch Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne (München 2018). Assmann zufolge müsste schon die ägyptische Religiosität von rechts wegen zu den transzendentalen Durchbrüchen der Achsenzeit gerechnet werden, was aber nicht möglich ist, da das alte Ägypten chronologisch ganz und gar aus dem Zeit-Schema der achsenzeitlichen Kulturen herausfällt. Auf Ipuwer werde ich weiter unten erneut zu sprechen kommen.

Zwischenstand

Bis hierhin ist festzuhalten, dass sich im Judentum – als der vielleicht pronatalistischen Religion schlechthin – zwar durchaus überaus wirkmächtige proto-antinatalistische Gedanken in der Form von Niegewesenseinswünschen finden, dass diese Niegewesenseinswünsche aber von noch weiter her kommen als aus der Achsenzeit. Unter Berücksichtigung der altorientalischen Überlieferung ist man fast zu sagen geneigt: Der Wunsch, niemals gewesen zu sein, ist so alt wie die schriftliche Überlieferung. Die Antwort auf die Frage, worin der jüdisch-christliche Antinatalismus in letzter Instanz gründet, könnte daher etwa lauten: Der jüdisch-christliche Antinatalismus kommt von dort, von woher vielleicht jegliche Religion kommt: aus der unerträglichen Schwere des Daseins. Also daher, wo auch Ludwig Feuerbach und Karl Marx die Religion gründen lassen.

Natalmythos

Ich möchte jetzt auf einen meines Erachtens bis in die Gegenwart wirksamen Mythos jüdischer Provenienz zu sprechen kommen, der sich mindestens auf das talmudische Mythologem von der Präexistenz der Seele zurückführen lässt. Dieser Natalmythos lässt sich sowohl pronatalistisch als auch antinatalistisch auslegen. Er lässt sich pronatalistisch auslegen, sofern es einerseits geboten ist, dass alle präexistierenden Seelen verkörpert, also geboren werden. Andererseits eignet dem Natalmythos ein antinatalistischer Impetus, wenn man auf die begrenzte Anzahl präexistierender Seelen verweist, weil ja nach deren Verkörperung der Nachschub ausbleiben muss und die Menschheit aussterben wird, wenn alle präexistierenden Seelen verkörpert sind.

Auch wenn die implizite oder explizite Beanspruchung einer präexistenten Seele oder einer präexistenten Seelensubstanz innerhalb der wissenschaftlichen Forma mentis der Moderne nur mehr ein Fremdkörper ist, scheint dieser Natalmythos als einer von vielen Mythen der Moderne bis in die Gegenwart unterschwellig wirksam geblieben zu sein. Progenerative Entscheidungen könnten einen Teil ihres Impetus durchaus dem unterschwelligen Wirken dieses Natalmythos oder vergleichbarer Natalmythen verdanken. Präsent ist ein moderner Natalmythos etwa, wenn die Autorin Esther Vilar (*1935) im Sinne einer Carnedizee formuliert:

„Wir schlachten also die Tiere und essen sie, sorgen aber gerade dank diesem mitleidlosen Verhalten dafür, dass sie überhaupt das Licht der Welt erblicken durften.“ (Vilar, Die Erziehung der Engel, Düsseldorf/Wien 1992,S. 96)

Und auch der daseinsdankbare Günther Anders (1902–1992. Autor des Werks Die Antiquiertheit des Menschen) rekurriert unfreiwillig auf diesen Mythos, wenn er bemerkt, er sei froh in diese Welt eingelassen worden zu sein, ein Glück, welches den meisten nicht vergönnt gewesen sei).

Die Aussagen von Vilar und Anders zeugen von der verbreiteten Schwierigkeit, die Creatio ex nihilo eines Bewusstseins in ihrer Radikalität ebenso zuzulassen, wie Kosmologen den Urknall zu denken versuchen: sich dessen zu vergewissern, dass das Tierbewusstsein (Vilar) oder man selbst (Anders) vor gar nicht allzu langer Zeit durchaus nicht existierten (und die Welt ohne Weiteres auch ohne uns ihren Lauf genommen hätte) und dass „uns“ weder genutzt noch geschadet wurde, als wir zu existieren begannen (sofern nämlich ein Nutzen oder ein Schaden die Vergleichbarkeit mit einer früheren Daseinssituation erfordert, in der wir uns aber nicht befanden, da wir schlicht nicht existierten).

Freilich lassen sich auch Konstellationen anführen, in denen der Natalmythos im Dienste antinatalistischer Aspirationen dient; dort nämlich, wo der Existenzbeginn durchaus als Schaden deklariert wird. Ein Beispiel hierfür bieten die ersten Zeilen eines Nichtseins-Gedichts von Anton Wildgans’ (1881–1932):

„Wer darf solchen Herzens / Einen Menschen aufwecken / Aus dem Schlummer des Nichtseins? / Schläft er nicht in süßester Dämmernis / Angstverschont, notgefeit, wunschlos?“ (Wildgans, Dies irae, S. 205)

Der Guf-Raum

Zur Explikation moderner Natalmythen können wir einen ortlosen Bezirk einführen, den wir in Anlehnung an ein talmudisches Mythologem den Guf-Raum nennen können. Ich zitiere aus einem älteren Wörterbuch der Mythologie:

„Guf (Talmud.), der Sammelplatz aller Seelen, welche Gott auf einmal schuf. Es sollen nur 600.000 sein, die nach und nach durch alle Körper wandeln.“[3]

Gemäß talmudischer Tradition verwahrte Gott die gleichzeitig geschaffenen Seelen im Guf (Hebräisch: Körper – auch Otzar [Schatzhaus] genannt), bzw. in der im Siebten Himmel liegenden Halle der Seelen – auch Arabot genannt –, die sich eine nach der anderen mit Körpern vereinigen sollten. Nach Abruf aller Seelen mittels Fortpflanzung auf Erden würde der Sohn Davids als Messias erscheinen.[4] Dieses Mythologem macht die Fortzeugung zur Heilsaufgabe: Denn nur wer sich fortpflanzt, leert den Guf und lässt im gleichen das Auftreten des Messias näherrücken. Wobei jedem einzelnen geborenen Menschen die Bedeutung zukommt, manifestes Sinnbild dafür zu sein, dass der Guf leerer geworden ist. Jeder Einzelne ist von Bedeutung und unverzichtbar, weil er durch sein Geborenwerden zum Erscheinen des Messias beigetragen hat. Der Messias wird förmlich herbeigezeugt.[5]

Übrigens mag dieses mythologisch fundierte Gebot zur Fortpflanzung vielleicht zumindest ansatzweise erklären, warum kaum ein dem jüdischen Kulturkreis nahestehender Denker, insbesondere kein Denker der Kritischen Theorie/Frankfurter Schule, eine Empfehlung zur Nachkommenlosigkeit ausgab, wiewohl sie kaum noch Hoffnungen auf eine befriedete Gesellschaft hegten.

Die Rede von gleichsam schlummernden oder halbseienden Seelen, die entweder in die Welt gebracht werden sollen oder vor dem Eintritt in die Welt gerettet werden sollen, ist ein moderner – oder doch zumindest niemals unmodern gewordener – Mythos mit talmudischen Wurzeln, für den sich frühe Spuren wiederum in Ägypten ausfindig machen lassen. So schreibt Jan Assmann in seiner Archäologie der Moderne zur altägyptischen Kontinuität von Präexistenz und Existenz:

„Vollkommen eindeutig ist die ägyptische Vorstellung von einer Kontinuität von Präexistenz und Existenz. Vor der Welt war nach ägyptischer Anschauung kein Chaos, das überwunden und durch Kosmos ersetzt werden musste, sondern die Welt im Zustand einer keimhaften Potentialität, aus dem sie durch den Selbstentstehungsakt einer Urgottheit (sei es, je nach ortsspezifischer Interpretation, Atum, Amun, Ptah oder Neith) hervorging… Das ist die Kontinuität von vor- und innerweltlichem ‚Schöpfergeist‘.“ (Assmann, a.a.O., S. 89)

Bevor ich mich gleich der Übergangsphase vom Judentum zum Christentum nähere, möchte ich kurz den alttestamentarischen und den altgriechischen Daseinsprotest bzw. ihre Niegewesenseinswünsche vergleichend nebeneinanderstellen:

Altprophetische und altgriechische Niegewesenseinswünsche. Daseinsprotest im Vergleich

Stellt man die im Ausruf „Mä phynai!“ (Besser nie geboren!) manifest gewordene Daseinsverwünschung, wie sie von altgriechischen Tragikern überliefert ist, neben die alttestamentarischen, wie man sie bei Jeremias oder Hiob findet, so lässt sich bei letzteren Propheten gleichsam ein Fortschritt im Bewusstsein des Nichtseinmüssens verzeichnen. Denn während in der (griechischen) Antike in Gestalt des Topos „O wär ich nie geboren!“ nur ein unpersönliches Schicksal ob des je eigenen Geborenseins gescholten wird, wird von Hiob und Jeremias ein personaler Gott als Daseinsverantwortlicher angeklagt und zur Rechenschaft gezogen; oder aber es werden jeweilige Eltern, und zwar insbesondere die Mütter, angeklagt bzw. man klagt ihnen sein Leid.

Eine – freilich übergeneralisierte und nicht chronologische – dreischrittige Entwicklungslinie sähe folglich etwa so aus:

  1. Die vielfältig belegte Anklage eines unpersönlichen Schicksals in der griechischen Antike: O wär ich nie geboren![6] Mit einer mutmaßlichen Entstehung im 3. Jh. v. Chr. und Jerusalem oder Alexandria als Ort der Entstehung gehört hierzu vielleicht auch der Prediger Salomo / Kohelet, 4,3: „Da pries ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben haben. Und besser daran als beide ist, wer noch nicht geboren ist…“
  2. Revolte gegen einen persönlichen Gott bei den Propheten, insbesondere bei Hiob.
  3. Vorhaltungen von Kinderseite gegen die je eigene Mutter ob der eigenen Hervorbringung, insbesondere bei Jeremias.

Christentum[7]

Einen religiös larvierten Fortschritt im Bewusstsein des Nichtseinmüssens von Menschen verzeichnen wir im Neuen Testament in Gestalt eines Bessernichthervorbringens von Menschen: Mit dem Jesus-Ideal der Kinderlosigkeit geht der genuin christliche Proto-Antinatalismus über das hinausgeht, was sich als Daseinsprotest, metaphysische Revolte oder Niegewesenseinswünsche kategorisieren ließe.

Wenn es für den Moment gestattet ist, das Judentum als Mutterreligion anzusehen und das Christentum als selbstständig gewordene Sekte des Judentums sowie den Islam als selbstständig gewordene Sekte des Christentums, dann fragt es sich: Sind Bestandsstücke der metaphysischen Revolte, wie sie im Alten Testament aus Jeremias und Hiob spricht, in den Tochterreligionen Christentum und Islam noch präsent und fortgeführt worden? Oder sollten wir eher sagen, dass das Christentum in Sachen Daseinsverneinung einen völlig neuen Anlauf nahm?

Zum Islam werde ich in Kürze etwas sagen. Was das Christentum betrifft, lautet eine erste Antwort auf diese Frage: Der zumal bei Jeremias und Hiob zutage tretende Daseinsprotest gewinnt in der christlichen Religion an Format. Im Christentum verlassen die alttestamentarischen Niegeborenseinswünsche den Bereich des Individuellen und erstrecken sich im Rahmen kurzfristiger Endzeitvorstellungen auf die gesamte Menschheit. Diese Tendenz wird später von Augustinus (354–430) bestätigt, wenn er sagt, das Himmelsreich würde nur umso schneller kommen, wenn es keine neuen Geburten mehr gäbe. Zwar heißt es in altgriechisch-tragischer Manier in zwei Evangelien des Neuen Testaments explizit über Judas Ischariot, ihm wäre besser gewesen, nie geboren worden zu sein; aber tendenziell konstituiert sich das Christentum als eine gesamtmenschheitlich-antinatalistische Religion. – Womit das Christentum insgesamt – pace Jeremias, pace Hiob – eine radikale Abkehr von der aufs Ganze gesehen daseinsbejahenden Welteinstellung des Judentums vollzieht. In dem Maße, in dem das Christentum im Laufe seiner Geschichte die urchristliche Weltverneinung relativierte, wird übrigens KURNIG[8], der erste moderne Antinatalist, sogar von einer Rück-„Judaisierung“ reden.

Vor dem Hintergrund des Gesagten wäre es somit verfehlt, die Genese des Christentums aus dem Judentum als die Geschichte einer kontinuierlichen Radikalisierung immer schon vorhandener weltverneinender Tendenzen jüdischer Überlieferung zu schreiben. Denn im raum-zeitlichen Kontext des Christentums wird die Daseinsverneinung geradezu sprunghaft auf ein ganz neues Niveau gehoben. In der Annahme, dass dies von hermeneutischem Wert sein könnte, können wir gleichwohl versuchen, eine gewisse Kontinuität der Daseinsverneinung in der Abspaltungsphase des Christentums vom Judentum zu konstruieren:

Das Christentum wurde als antinatalistische Religion geboren, und es konnte – plakativ gesagt – solange essentiell antinatalistisch bleiben, bis es für das Römische Reich staatstragend erwachsen geworden war und sich als Katholische Universalkirche konstituierte.

Die Geburt des wesentlich daseinsverneinenden Christentums aus dem insgesamt daseinsbejahenden Judentum ereignete sich im Zeichen einer Nah-Erwartung des Endes der Zeiten bzw. der Ankunft des Messias. Mythologisch gesprochen sollte der Messias erscheinen, sobald die Zahl der gottgeschaffenen und im – vorhin erwähnten – Guf-Raum präexistierenden Seelen verkörpert ist. Hält man sich an diesen Mythos, so durfte die Geburt Jesu und seine Anerkennung als Messias als Zeichen dafür genommen werden, dass sich keine geschaffenen Seelen mehr im Wartehäuschen aufhielten und auf ihre Verkörperung warteten. Mit der christlichen Zeitenwende würde niemand ungeboren zurückgelassen werden.

Dies ist mythologisch gesprochen. Soziologisch gesehen verhielt es sich wohl eher so, dass das Maß des Leidens voll war. Dies galt bereits für die Essener, deren Daseinsweise wir als antinatalistische Nahtstelle zwischen Judentum und Christentum deuten können. Hinter dem zwar nicht durchgängigen aber doch verschiedentlich bezeugten Proto-Antinatalismus der Essener mit ihrer „Neigung zur Ehelosigkeit“ vermutet Max Weber „durch irgendwelche Vermittlungen“ wirkende indische Einflüsse (M. Weber, a.a.O., S. 426). Auch wenn dies nicht unplausibel klingt, könnte es sich beim religiösen Antinatalismus der Essener aber auch um einen eigenständigen Durchbruch zur Einsicht in die moralisch-religiöse Überlegenheit nataler Enthaltsamkeit handeln. Bemerkenswert ist, dass religiöser Antinatalismus und Ablehnung des Tieropfers bei dieser Sekte offenbar gleichursprünglich auftreten. Aus religionssoziologischer Sicht ließe sich zur essenischen Lehre und Praxis ferner bemerken: Jerusalem befand sich damals unter römischer Herrschaft. Und die Essener gehörten in diesem Kontext zu denen, die das römische Leben mit seinen zersetzenden, heidnischen Bräuchen am radikalsten in Frage stellten. Sehr viel radikaler noch als die Pharisäer. Die Essener zogen sich in Höhlen in der Wüste zurück und waren überzeugt, dass das Ende der Welt naht – Armageddon. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass sich Johannes der Täufer – Jesus‘ messianischer Vorgänger – lange Zeit, vielleicht jahrelang, bei den Essenern aufgehalten haben könnte. Wobei wir allerdings mit Hans Jonas (1903–1993) berücksichtigen sollten, dass die Askese der Essener eher der Heiligung der menschlichen Existenz diente, während im Unterschied dazu die von den eigentlichen Gnostikern propagierte Askese antikosmisch war oder gar Teil der gnostischen Revolte gegen den Kosmos (vgl. Hans Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 181).

Die Auffassung, dass ein Endgericht unmittelbar bevorsteht, teilt Jesus mit Johannes. Und hieraus folgt ein Antinatalismus der Leidvermeidung, gleichsam ein “Mitleid mit etwaigen künftigen Generationen“: Warum sollte man zahlreiche Menschen dem Endgericht aussetzen (aktuell gesprochen: der atomaren Vernichtung oder grassierender Umweltdegradation und klimatischen Heimsuchungen), wenn es doch nur nataler Enthaltsamkeit bedarf, um zu verhindern, dass zusätzliche Menschen dem Endgericht ausgesetzt werden? Diese Frage stellt sich später – Jahrhunderte nach der Geburt Jesu – innerchristlich erneut, und zwar vor dem Hintergrund der Augustinischen Lehre von der Massa damnata (siehe hierzu Kurt Flaschs Studie: Logik des Schreckens): Warum immerfort neue Menschen hervorbringen, wenn doch zugleich feststeht, dass die Mehrzahl der Seelen zu ewiger Verdammnis verurteilt ist? In diesem Sinne wird übrigens noch der Theologe Weitenkampf (1696–1774) flehentlich ein baldiges Ende der Zeiten verlangen: „Hilf ewiger Gott! Wie groß würde die Anzahl der verdammten Geschöpfe werden, und wie wäre es möglich, dass Gott unendlich gütig wäre, wenn die Erde ewig stünde? […] so haben wir auch weit mehr Ursache, den jüngsten Tag eher zu hoffen als ihn noch sehr lange hinaus zu setzen.“ (Zit. nach Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung, S. 194f)

Der Antinatalismus des Neuen Testaments speist sich wesentlich aus der Überzeugung eines unmittelbar bevorstehenden Weltendes. Während aus dem Judentum etwa in Gestalt von Jeremias und Hiob zwar ein bis in unsere Zeit wirkmächtiger Daseinsprotest spricht, der innerhalb der jüdischen Sekte der Essener sogar in natale Zurückhaltung übergegangen sein mag, kommt es in der jüdischen Überlieferung zu keinem antinatalistischen Durchbruch. Demgegenüber ist das Christentum von Anfang an antinatalistisch gefärbt.

Der jüdische Gott erscheint durchgehend pronatal (auch wenn er mit der Sintflut zugleich zum größten mythischen Massenmörder religiöser Überlieferung werden sollte). Gegen seine durchgängige Pronatalität erheben sich nur an Einzelpersonen gebundene metaphysische Revolten wie diejenigen von Jeremias und insbesondere Hiob. Auch wenn es im Buch Hiob Theophanien gibt (Gott redet aus dem Wind heraus), muss sich Hiob letztlich doch als ebenso gottesfern erfahren wie alle anderen Menschen auch. Über Jesus hingegen lässt sich sagen, dass er Gott so nah ist wie kein anderer Mensch. Er ist Gottes Sohn und IST damit auf die eine oder andere Weise immer auch göttlich. Weit über die metaphysische Revolte Einzelner hinausgehend, lässt sich Jesus‘ impliziter Antinatalismus somit vielleicht auch als gotteskonformer Antinatalismus bezeichnen. In den einschlägigen antifamilistischen und antinatalistischen Forderungen Jesu wie sie in den Evangelien überliefert sind, hat der Antinatalismus gleichsam Gottes Segen.

Im Christentum hat die Ehe das Primat vor der Fortpflanzung

Wie bereits angedeutet, lässt sich im Alten Testament ein womöglich von Ägypten herkommender achsenzeitlicher Durchbruch zum Daseinsprotest festmachen. Aber dieser ist nicht strukturell angelegt. Aufs Ganze gesehen bleibt die Überlieferung jüdischer Religiosität pronatalistisch. Dies erhellt zumal auch dann, wenn wir berücksichtigen, dass im Judentum die Fortzeugung stets Priorität vor der Ehe hat. Männer dürfen ihre Frauen verstoßen, wenn diese nicht fortpflanzungsfähig sind. Und man muss lange fahnden, um vielleicht einmal in Max Webers (1864–1920) religionssoziologischen Studien zum antiken Judentum einen Hinweis auf Überlegungen wie diejenige zu finden, ob der Rabbi „nicht besser unverehelicht bleibe, um sich ganz ungestört dem Studium widmen zu können.“ Weber fügt dem sogleich an: „Aber das hat mit ‚Askese‘ nichts zu schaffen, so bemerkenswert es ist, dass die für das Heil der Gemeindegenossen wichtige Arbeitspflicht hier das alte Gebot der Erzeugung von Nachkommen zu erschüttern die Kraft hatte.“ (M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III, S. 419) Immerhin haben wir hier wohl einen seltenen Beleg dafür vor Augen, dass und unter welchen Umständen der dezidierte Pronatalismus des antiken Judentums hinter höheren religiösen Obliegenheiten – Studien und Heilspflichten – zurückstehen musste.

Werner Sombart (1863–1941) schließlich zitiert in seinem Buch „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ folgende erstaunliche talmudische Stelle, die zu gottesfürchtiger Bewusstheit der Lebensführung aufruft und diesen Aufruf zugleich in das Licht des Mä phynai taucht: „Es wäre wohl für den Menschen besser, nicht geboren zu sein; da er aber einmal auf der Welt ist, so soll er oft seine Handlungen untersuchen.“ (Die Juden und das Wirtschaftsleben ,München/Leipzig 1922, S. 267)

Im Unterschied zur durchweg pronatal eingestellten jüdischen Religion predigt Jesus bereits in der Geburtsphase des Christentums nicht allein, dass der Bestand einer einmal geschlossenen Ehe Vorrang vor der Fortpflanzung hat, sondern zudem den für die umgebende jüdische Lebenswelt – dies gilt zunächst auch für Paulus – unfasslichen Gedanken, wonach es das Allerbeste wäre jegliche Bindungen und Gedanken an Familie und Fortzeugung aufzugeben und ihm kinderlos zu folgen.

Man kann Geschichte verstehen als Fortschritt der Menschheit im Bewusstsein ihres Nichtseinmüssens. Mit Sicherheit lässt sich in der genetischen Struktur des Christentums als anfänglich jüdischer Sekte ein Fortschritt (von Teilen) der Menschheit im Bewusstsein ihres Nichtseinmüssens erkennen. Dass allerdings von einer kontinuierlichen Entwicklung zumindest von Teilen der Menschheit im Bewusstseins ihres Nichtseinsmüssens keine Rede sein kann, erhellte bereits aus weiter oben gegebenen Hinweisen zur altägyptischen Überlieferung. Hierauf ist jetzt erneut zurückzukommen.

Einbezug der Klage des Ipuwer: Altägyptisches Verebben der Menschheit

Weiter oben hatte ich bereits eine altägyptische Daseinsverwünschung in den Mahnsprüchen des Ipuwer als Indiz dafür zitiert, dass die alttestamentarischen Daseinsverwünschungen von weiter her gekommen sein könnten. Ein ganz neues Bild ergibt sich dann, wenn wir jetzt berücksichtigen, dass sich in den Mahnbriefen des Ipuwer nicht bloß eine Daseinsverwünschung findet, sondern – vielleicht erstmalig schriftlich fixiert – das Ende der gesamten Menschheit auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit ins Auge gefasst wird:

„Oh hätte es doch ein Ende mit den Menschen! Möchte man nicht mehr empfangen noch gebären! Möchte die Erde still werden von Lärm und es keinen Aufruhr mehr geben!“

(Zit. in Peter Jacob, S. 135)

Im Lichte dieses Zitats könnte sich der erste Durchbruch zum Antinatalismus bereits vor beinahe 4000 Jahren und damit quasi vor unvordenklicher Zeit ereignet haben. Manche Forscher vertreten die Auffassung, dass es sich bei den Klagen des Ipuwer durchaus nicht um eine Reaktion auf aktuelle Ereignisse (wie den Einfall des Reitervolks der Hyksos) handeln muss, sondern eine Themadichtung vorliegen könnte, ganz unabhängig vom politischen Geschehen.[9] Damit wären die Klagen des Ipuwer als zeitlose Befunde zur Conditio inhumana einzustufen, deren zeitloser Anlass darin liegt, dass Gott den Einfluss oder gar die Vorherrschaft des Bösen in der Welt duldet.[10]

Vor dem Hintergrund dieser prä-achsenzeitlichen Textstelle wäre über die metaphysischen Revolten des Alten Testaments zu sagen: Im Alten Testament überdauerte ein vorgängiger ägyptischer Durchbruch zum Antinatalismus in der larvierten Gestalt von Daseins- oder Geburtsverwünschungen als Schwundstufe, um erst sehr viel später mit der Herauslösung des Christentums aus dem Judentum wiedergeboren zu werden. Wollen wir den Ausruf des Ipuwer zum Verebben der Menschheit in seiner ganzen Radikalität würdigen, so dürfen wir sogar von einer Wiedergeburt der altägyptischen Geburtsverfluchung zum modernen Antinatalismus sprechen.

Islam

An dieser Stelle sei kurz die Frage aufgeworfen, ob oder wie der Islam – ursprünglich eine christliche Sekte – die metaphysischen Revolten des Judentums oder gar den christlichen Antinatalismus im Koran fortgeführt hat. Aus meiner Koranlektüre ist mir diesbezüglich nichts erinnerlich. Als zeugungs- und daseinskritische Mä phynai-Denker oder Proto-Antinatalisten des islamischen Kulturkreises sind indes al-Ma’arri (973–1057) und Omar Chayam (1048–1131)[11] bekannt. Von al-Ma’arri ist unter anderem überliefert:

„Birth I chose not, nor old age, nor to live“

„Life is a malady whose one medicine is Death“

“Beget no children, if thou art wise”

“And I gave peace to my children, for they are in the bliss of non-existence which surpasses all the pleasures of this world. / Had they come to life, they would have endured a misery casting them to destruction in trackless wildernesses”

“The rich man desires a son to inherit his wealth, but were the fathers intelligent no children would be born”[12])

In Anbetracht derartiger Daseinsverneinungen resümiert der Herausgeber von al-Ma’arri den Gesamttenor seiner Aussagen dahingehend, “that procreation is a sin against the child.” (Nicholson, a.a.O., S. 126)

Die Lektüre des erst kürzlich vollständig ins Deutsche übersetzten Buch des Leidens von Farid Attar (~1135–1220) – der dem Sufismus angehörte – belegt darüber hinausgehend den erstaunlichen Umstand, dass im islamischen Kulturkreis sogar ein Nichtseinsollen der Menschheit insgesamt gedacht worden ist:

„Entweder hättest Du die Menschen gar nicht erschaffen sollen, oder Du musst ihren Lebensunterhalt bedingungslos gewährleisten“ (Attar, Buch der Leiden, Beck 2018, S. 74)

Bemerkenswert ist dieses Zitat nicht nur, weil es das Seinsollen der Menschheit infrage stellt, sondern auch, weil es sich wie die Antizipation eines Befundes von Immanuel Kant (1724–1804) liest. Laut Kant haben Eltern ihre Kinder bis zur Volljährigkeit so gut zu versorgen, dass die Kinder das Dasein gegenüber dem Nichtsein gewählt haben würden, hätten sie die Wahl gehabt. Dieser Gedankengang führt, über Kant hinausweisend, unmittelbar zur Forderung nach einem Existenzgeld für alle Gebürtigen: Da keine Person gefragt werden konnte, ob sie existieren möchte, obliegt es dem Staat, sie für die vielen Unwägbarkeiten des Daseins mit einem Existenzgeld zumindest ansatzweise zu entschädigen.[13]

Da ich kein Kenner der Materie bin, ist mir nicht bekannt, ob vergleichende Studien zur Daseinsverneinung bei Dichtern und Denkern wie al-Ma’arri, Chayyam oder Attar bereits vorliegen.[14] Aktuell scheint mir hier ein gewisser Forschungsbedarf gegeben zu sein.

Antinatalismus im inoffiziellen Christentum und Hans Jonas‘ Wiedergutmachung gnostischer Begeisterung

Oben hatte ich angedeutet, dass der frühe christliche Antinatalismus gewissermaßen zumindest ein Stück weit den Segen des Christengottes gehabt haben muss, weil es Jesus ist, der ihn durch seine Nachkommenlosigkeit und familiäre Bindungslosigkeit nahelegt und weil keine zweite Person derart gottesnah ist wie Jesus. Damit ist ein Stichwort gegeben, hier einmal kontrastierend auf den fernen Gott oder den fremden Gott zu sprechen zu kommen, wie er von der Gnosis propagiert wurde. – Der Gnosis als einem gleichursprünglichen Konkurrenzunternehmen zu jenem offiziellen Christentum, das sich schließlich zur katholischen Kirche konsolidieren sollte.

Und dies ist der Moment, auf Hans Jonas zu sprechen zu kommen und die eingestandenermaßen gewagte Deutung vorzustellen, wonach Jonas sich mit seiner späteren Ontologie absoluten menschheitlichen Seinsollens unerklärt reumütig und selbstkritisch von seiner früheren Begeisterung für die Gnosis distanziert. Einige Aspekte von Jonas‘ gnostischem Hingerissensein sprechen aus folgendem längeren und betörend schönen Zitat aus Jonas‘ Buch Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes:

„Aus dem Nebel der Anfänge unseres Zeitalters taucht ein Schauspiel mythischer Gestalten auf, deren gewaltige, übermenschliche Konturen die Wände und die Decke einer zweiten Sixtinischen Kapelle bevölkern könnten. Ihr Antlitz und ihre Gebärden, die Rollen, die sie besetzen, das Drama, das sie aufführen, würden andere Bilder zum Vorschein bringen als die biblischen, mit denen die Phantasie des Betrachters aufgewachsen ist, und doch wären sie merkwürdig vertraut und auf beunruhigende Weise bewegend.

Die Bühne wäre dieselbe, das Thema ebenso transzendent – die Erschaffung der Welt, das Schicksal des Menschen, Fall und Erlösung, die ersten und die letzten Dinge. Doch um wieviel zahlreicher wäre die Besetzung, um wieviel bizarrer die Symbolik und um wieviel extravaganter wären die Empfindungen! Nahezu die gesamte Handlung würde sich in der Höhe abspielen, im göttlichen Bereich oder in jenem der Engel oder Dämonen – ein Drama präkosmischer Personen in der Welt des Übernatürlichen, auf welches das Drama des Menschen in der natürlichen Welt lediglich ein fernes Echo darstellt. Und dennoch wäre jenes transzendente Drama vor aller Zeit, das seine Darstellung in den Handlungen und Leidenschaften menschenähnlicher Gestalten findet, voller menschlicher Anziehungskraft: verführte Göttlichkeit, Unruhe, welche die gesegneten Äonen aufwühlt, Gottes irrende Weisheit, die Sophia, die zum Opfer ihrer eigenen Torheit wird, in die Leere und Dunkelheit ihres eigenen Schaffens hineinirrt, endlos suchend, klagend, leidend, bereuend, ihre Leidenschaft in die Materie, ihre Sehnsucht in die Seele hineingebärend; ein blinder, hochmütiger Schöpfer, der sich selbst für den Allerhöchsten hält und sein Zepter über die Schöpfung schwingt, die – wie er selbst – ein Erzeugnis des Mangels und der Unwissenheit ist; die im Labyrinth der Welt gefangene und verlorene Seele, die zu fliehen versucht, aber vor den Wächtern des kosmischen Gefängnisses, den furchtbaren Archonten, zurückschreckt; ein Retter aus dem jenseitigen Licht, der sich in die niedere Welt hineinwagt, die Finsternis erleuchtet, einen Weg eröffnet und die göttliche Verletzung heilt: eine Geschichte von Licht und Finsternis, Erkenntnis und Unwissenheit, Gelassenheit und Leidenschaft, Einbildung und Erbarmen – nicht in menschlichem Maßstab, sondern in jenem von ewigen Wesen, die nicht vor Leiden und Irrtum gefeit sind.

Die Geschichte hat keinen Michelangelo, keinen Dante, keinen Milton[15] gefunden, die sie nacherzählt hätten. Die strengere Zucht des biblischen Glaubensbekenntnisses überstand den Sturm jener Zeit, und Altes und Neues Testament gestalteten von nun an den Geist und die Phantasie des westlichen Menschen. Jene Lehren, die in der fiebernden Stunde des Übergangs den neuen Glauben herausforderten, in Versuchung führten und zu verdrehen versuchten, sind vergessen, ihre schriftlichen Zeugnisse sind in den dicken Büchern jener begraben, die sie widerlegten, oder aber im Sand der Länder der Antike. Unsere Kunst, unsere Literatur und vieles mehr wäre anders, hätte die gnostische Botschaft sich durchgesetzt.

Wo der Maler und der Dichter schweigen, muss der Forscher die entschwundene Welt aus ihren Fragmenten rekonstruieren und ihre Gestalt mit seinen weit schwächeren Mitteln zum Leben erwecken. Er vermag dies heute besser denn je zuvor, da der Sand begonnen hat, etwas von dem vergrabenen Treugut preiszugeben. Diese Wiederbelebung ist von mehr als bloß antiquarischem Interesse: bei all ihrer Fremdheit, ihrer Gewaltsamkeit gegenüber der Vernunft und bei aller Maßlosigkeit ihres Urteils eignete dieser Welt des Fühlens, Schauens und Denkens Tiefgründigkeit, und ohne ihre Stimme, ihre Erkenntnisse, ja ihre Irrtümer, bleibt das Zeugnis der Menschheit unvollständig. Obgleich sie der Ablehnung verfiel, stellt sie eine der Möglichkeiten dar, die sich damals am Scheideweg der Glaubensbekenntnisse boten. Ihr Glühen wirft Licht auf die Anfänge des Christentums, die Geburtswehen unserer Zeit, und die Erben einer lange zuvor gefallenen Entscheidung werden ihr Erbe besser verstehen, wenn sie darum wissen, was einst mit ihm um die Seele des Menschen rang.“ (Jonas, Gnosis, S. 11f, Fettungen von KA)

Wie Recht Jonas doch hat: „Unsere Kunst, unsere Literatur und vieles mehr wäre anders, hätte die gnostische Botschaft sich durchgesetzt.“ In der Tat dürfen wir annehmen, dass das, was aus Orient und Okzident als Abendland zusammenfloss, weitaus antinatalistischer geprägt worden wäre.

Für eine gewisse  Begeisterung von der symbolischen Formenwelt der Gnosis und der gnostischen Weltsicht ist Hans Jonas selbstverständlich nicht das einzige Beispiel – ebenso wenig, was die Mutmaßung angeht, dass bei stärkerer Wirkmächtigkeit des Gnostischen über die Anfänge des Christentums hinaus die Geschichte des Abendlands ganz anders hätte verlaufen können. In ihrem Buch über die gnostischen Evangelien, The Gnostic Gospels, notiert auch Elaine Pagels (*1943):

“But the discoveries at Nag Hammadi reopen fundamental questions. They suggest that Christianity might have developed in very different directions…” (Pagels, The Gnostic Gospels, Vintage Books 1989, S. 142)

Jonas drückt sich dahingehend aus, der Sand habe begonnen, Teile des vergrabenen gnostischen Treuguts preiszugeben und bezieht sich damit u.a. auf die Funde frühchristlicher gnostischer Texte in Nag Hammadi 1945. Und er führt aus, ihre Wiederbelebung sei von mehr als bloß antiquarischem Interesse. In der Tat offenbaren diese Texte, dass die Sicht, wonach diese leiderfüllte Welt nur von einem bösen Demiurgen geschaffen sein kann – nicht aber von einem gütigen Gott –, ein stärkeres Fundament hat, als vielfach angenommen wird. Man stelle sich vor, das Neue Testament wäre aus gnostischen Evangelien editiert worden: Welchen Einfluss hätte dies auf unsere Forma mentis gehabt? Der menschliche Fortzeugungszusammenhang hätte dann wohl stärker unter antinatalistischen Vorzeichen und Rechtfertigungszwängen gestanden, da der gnostische Grundmythos besagt, dass die Lichtfunken unserer Seele solange nicht in ihre Heimat in der transzendenten Gottheit zurückkehren können, wie das menschliche Leben auf Erden weitergegeben wird. Erlösung könne es nur geben, wenn die Seelen sich als gottgleich erkennen und sich mittels nataler Enthaltsamkeit als Lichtfunken rein erhalten, statt sich fortzeugend immer tiefer in diese niedere Welt zu verstricken. Kurz: In der Gnosis gilt es, dem Ruf des fernen Gottes mittels Verweigerung der Fortzeugung Folge zu leisten. Gnostische Gottgefälligkeit ist immer auch anti-prokreationistisch.

In diesem Sinne überliefert Jonas in „Die Botschaft des fremden Gottes“ das folgende gnostische „Treugut“:

„Einst wandte sich die Seele zur Materie hin, sie verliebte sich in sie und, entbrannt von der Begierde, die Freuden des Körpers zu genießen, wollte sie sich davon nicht mehr freimachen. So entstand die Welt. Von diesem Augenblick an vergaß die Seele sich selbst. Sie vergaß ihre ursprüngliche Wohnung, ihr wahres Zentrum, ihr ewiges Wesen.“ (Zit. nach Jonas, a.a.O., S. 91)

An diese materieverstrickte Seele ergeht nun in der Gnosis von weither kommend ein Ruf, den Jonas folgendermaßen charakterisiert:

„… es ist der ‚Ruf des Lebens‘ oder des ‚großen Lebens‘ der gleichbedeutend mit dem Hereinbrechen des Lichtes in die Finsternis ist.“ […] Das Symbol des Rufes als der Erscheinungsform des Nichtweltlichen ist so fundamental für die östliche Gnosis, dass wir die mandäische und die manichäische Religion geradezu als ‚Religionen des Rufes‘ bezeichnen können.“ (Jonas, a.a.O. S. 103)

Interessanterweise wird der spätere Jonas auch seine Ontologie absoluten menschheitlichen Seinsollens als eine Ontologie des Rufes formulieren. In ihr sucht er im Sinne eines philosophischen Gegengifts zum „Opium“ der Gnosis plausibel zu machen, dass es einen Ruf des Seins zum Fortbestehen der Menschheit gibt, dem bedingungslos Folge zu leisten sei. Der gnostische Ruf dagegen zieht den Menschen von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs fort.

Als gnostische Grundaussage ist für uns festzuhalten: Der Mensch soll in dieser Welt nicht sein. Von daher ist es nur folgerichtig, wenn Jonas – in seinem Versuch, den Imperativ menschheitlichen Seinsollens gegen die Möglichkeit eines Verebbens der Menschheit plausibel zu machen –das gnostische Symbol des Rufes invertieren wird. Er präsentiert eine Ontologie des Rufes, in der es das Sein ist, welches den Menschen anruft und an den Menschen als den Hüter des Seins appelliert, insofern nämlich der Mensch die Zweckhaftigkeit des Seins wahrnehmen könne.

Zeigte Jonas in seinen Arbeiten zur Gnosis, wie die Gnosis es anstrebte, den Menschen aus seinen Verstrickungen in die schlechte Welt zu befreien, so unternimmt er späterhin den Versuch, mit einer neuen Ontologie das Sein als gut auszuweisen und den Menschen in ihm zu verankern. Seine Ontologie menschheitlichen Seinsollens kann als der Versuch gesehen werden, der nie völlig zum Schweigen gebrachten gnostischen Versuchung philosophisch etwas Substantielles entgegenzusetzen. Während in der Gnosis an die auf Erden eingekerkerte Seele von Außen der Ruf ergeht, sich von der Verhaftung an die Welt zu lösen, bemüht Jonas in seiner anti-gnostischen Ontologie menschheitlichen Seinsollens einen Spruch des Seins und der Natur. Im Sein gebe es Zwecke, da wir Menschen als zwecksetzende Wesen kontinuierlich aus der Natur hervorgingen; er erkennt eine Selbstbejahung des Seins und meint, dass das Sein nicht indifferent gegen sich selbst sei; das Dasein von Menschen sei ein Gut und ein Wert, da es die dezidierteste Abstandnahme gegen den Unwert des Nichtseins sei. Jonas führt diesbezüglich aus:

„In jedem Zweck erklärt sich das Sein für sich selbst und gegen das Nichts. Gegen diesen Spruch des Seins gibt es keinen Gegenspruch, da selbst die Verneinung des Seins ein Interesse und einen Zweck verrät. Das heißt, die bloße Tatsache, daß das Sein nicht indifferent gegen sich selbst ist, macht seine Differenz vom Nichtsein zum Grundwert aller Werte, zum ersten Ja überhaupt.“ (Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Ff/M 1984, S. 155)

Gegen den gnostischen Ruf des fremden Gottes, der die Menschen dazu auffordert, sich von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs zu trennen und dessen Kommunikationen dahingehend lauten, die humane Zeugungsgemeinschaft aufzuheben, setzt Jonas einen Spruch des Seins, der bei Strafe eines performativen Widerspruchs keine Widerrede dulde. Und als philosophischer Theologie wird er diese Überlegungen sogar noch mit folgendem theologischen Diktum flankieren: Auch wenn wir uns selbst im Stich lassen wollten – also mittels nataler Enthaltsamkeit verebben wollten –, so dürften wir doch Gott nicht im Stich lassen! In letzter Instanz ist es bei Jonas also ein anti-gnostischer göttlicher Seinsollens-Ruf, der uns zur Weitergabe des Lebens verpflichten soll, ganz gleich welches Leid auf künftige Menschen wartet. Um die Schrecken der deutschen Vernichtungslager wusste Jonas besser als die meisten anderen. Mit seiner zweigleisigen Außenverankerung der Menschheit im Sein einerseits und in Gott andererseits unternimmt er den ungeheuren Versuch, den Ausweg des Verebbens philosophisch zu blockieren und die Menschheit Auschwitz-fähig zu halten.

Jonas‘ Urschuldbekenntnis und natale Enthaltsamkeit in der Gnosis

Es ist jetzt an der Zeit, auf Jonas‘ Urschuldbekenntnis zu sprechen zu kommen, in dem er auf keinen Geringeren als den Propheten Jeremias rekurriert, von dem zu Beginn dieses Vortrags bereits die Rede war. Jonas fragt:

„Was eigentlich berechtigt uns, einem Wesen, indem wir es in die Welt setzen, das Dasein zuzumuten – einem Wesen, das sich an der Wahl nicht hat beteiligen können? Es gibt im Zeugen und Hervorbringen eines Kindes eine Art Urschuld. Denn nicht nur schenken wir dem Kinde das Dasein, wir erlegen es ihm auch auf  – ungefragt. In der Voraussetzung, daß dieses sein eigenes Leben wollen wird, daß wir also ein Leben in die Welt setzen, das sich selber bejaht. Das ist in einem gewissen Sinn eine ungeheure Präsumtion. Jeder muß darauf gefaßt sein, auf diesen Schrei, der aus dem Munde des Propheten Jeremias gekommen ist: „Mutter, warum hast Du mich geboren?“ Die Antwort darauf kann nur sein: Weil es die Ordnung der Dinge in der Natur so will, daß es nur unter dieser Bedingung Menschen geben kann: allein mit diesem Wagnis, daß man sie eben zum Menschsein nicht nur befähigt, sondern auch verurteilt. – Die Bürde des Daseins ist groß und vielleicht waren diese Menschen, um die es sich am meisten gelohnt hat, manchmal die unglücklichsten. Ich erinnere mich, wie ich einmal Martin Buber fragte, wie denn Kafka, den er persönlich kannte, gewesen ist. Er antwortete mir, und das werde ich nie vergessen: „Ich kann eins sagen, er war der unglücklichste aller Menschen, die mir je vorgekommen sind.“ Trotzdem hat sich sein Dasein gelohnt – ein schreckliches Wort, ich meine, es war wirklich der Mühe wert. Ich will die Frage einmal umkehren. Nicht was wir dem Säugling zu seinem Weiterleben schulden – das ist die positive Verantwortung –, sondern wie weit wir gehen dürfen mit der Zumutung des Daseins an das von uns gezeugte Kind, ist hier das Problem.““ (DIE ZEIT, 25.8.1989 Nr. 35, S. 9–12)

Offen konzediert Jonas hier, dass das Dasein eine Zumutung ist, es werde dem Kind nicht so sehr geschenkt – wie alle Elternmetaphysik es will –, sondern es werde vielmehr auch diktiert, das Kind ungefragt dazu verurteilt, sich mit Bürde des Daseins belastet wiederzufinden. Im Falle kulturergiebiger Menschen wie Kafka, Mozart, Beethoven oder van Gogh sei das Leiden am Geworfensein ins Dasein sogar besonders groß. Aber bei ihnen, so Jonas, hat es sich – zumindest im Nachhinein – auch besonders gelohnt, ihnen die jeweiligen Existenzbedingungen zuzumuten, da sie ja anderen Menschen überaus reichliche Schenkungen hinterließen, die Vielen das Leben erträglicher machten: Lektüre, Musik oder Gemälde. Bei rechtem Licht betrachtet macht Jonas hier eine krude utilitaristische Rechnung im schlechten Sinne des Wortes „Utilitarismus“ auf. Verurteilungen zum Dasein seien zulässig, weil es ohne diese Verurteilungen nicht nur keine „nützlichen“, sondern überhaupt keine Menschen geben könne. Warum es aber überhaupt Menschen geben soll, erläutert Jonas an dieser Stelle ebenso wenig wie es ihm an anderer Stelle gelingen sollte, das Seinsollen von Menschen schlüssig zu begründen. Stattdessen dämmert dem Autor von Das Prinzip Verantwortung, dass die Verurteilung von Menschen zu einem ungewissen und oft genug peinerfüllten Dasein verantwortungslos ist. Man ist versucht, mit den Worten eines Literaten – Tschechow, in seiner Erzählung Krankenzimmer Nr. 6 – gegen Jonas zu protestieren: „Tatsächlich wurde er doch ohne seinen Willen, durch irgendwelche Zufälligkeiten aus dem Nichtsein ins Leben gerufen… Wozu? Wenn er den Sinn und das Ziel seines Daseins erfahren will, sagt man ihm nichts oder redet Unsinn; […] kommt der Tod zu ihm, so ebenfalls gegen seinen Willen.“ (Tschechow, S. 289f)

Indem Jonas den Menschen mit den Mitteln der Metaphysik für aktuelle und künftige Barbareien wappnen und geradezu auschwitzfähig halten will – statt Auschwitz als den nichthintergehbaren Spruch der Menschheit zum Nichtseinsollens von Menschen zu akzeptieren –, vermeint er, das Dasein von Menschen dürfe nicht den antizipierbaren Schrecken ihres Soseins geopfert werden. Und die selbstgestellte Frage: „wie weit wir gehen dürfen mit der Zumutung des Daseins an das von uns gezeugte Kind…“, beantwortet er ganz offenbar so: Alle nur gewesenen und alle erdenklichen Schrecken dürfen wir Kindern zumuten. Vor diesem Hintergrund nannte zähle ich Jonas zu den Damnatoren.

Wie bereits angedeutet, kann Jonas‘ Ontologie absoluten menschheitlichen Seinsollens einerseits gelesen werden als Sühne für seine ursprüngliche Gnosis-Begeisterung und andererseits als Beitrag zur endgültigen Überwindung metaphysischen Daseinsprotests seit den Tagen des altägyptischen Ipuwer und des Propheten Jeremias. Eines Daseinsprotests, der in der Gnosis einen Kulminationspunkt erleben sollte. Um Jonas‘ ursprüngliche Gnosis-Euphorie erneut ins rechte Licht zu rücken und gebührend zu würdigen, sei hier eine weitere Stelle aus Jonas‘ Gnosis-Buch zur „Botschaft des fremden Gottes“ zitiert, an der er geradezu euphorisch zum Gnostiker Marcion ausführt,

„der Marcionitismus [ist] auf die eine oder andere Weise im Christentum bis heute ein Problem geblieben.[16] Und – ganz abgesehen von allen Auseinandersetzungen um die Lehre – wird Marcions Botschaft vom neuen und fremden Gott nie aufhören, die Herzen der Menschen anzurühren.“ (Jonas, Gnosis, S. 182)

Wer ist dieser Marcion, dem Jonas hier huldigt? Für das unmittelbar Folgende darf ich aus meinem Buch Verebben der Menschheit? Neganthropie und Anthropodizee von 2000 zitieren: Marcion, um das Jahr 90 unserer Zeitrechnung geboren, ist als Gnostiker zugleich Kirchengründer. Zeitweilig dürfte die Mitgliederzahl der Kirche Marcions diejenige der Großkirche sogar übertroffen haben. Marcion zufolge entbehrt der im Alten Testament sich aussprechende Schöpfer der Welt der Eigenschaften barmherziger Güte und des Verzeihens. Der alttestamentarische Rigorismus wurde ihm Anlaß, im Weltenschöpfer einen bösen Demiurgen zu sehen, was eine Spaltung im Gottesbegriff mit sich führt. Der sich in Jesus offenbart habende Vater einerseits und der Gott des Alten Testaments andererseits stimmen für Marcion nicht überein. Christus steht dem die Menschen mit zorniger Rachsucht bedrohenden Gott der Herrschaft und des Gesetzes als Gesandter des wahren Gottes leidenschaftsloser Güte gegenüber. Christus ist der Heiland, der die Seelen der an den wahren Gott Glaubenden vom Einfluss des Gerechtigkeitsgottes und also der Verhaftung an die Materie befreit und die erlösende Rückkehr zum Gott ihrer Herkunft ermöglicht. Durch die Spaltung im Gottesbegriff in einen jenseitigen und unbeteiligten guten und einen weltschaffenden bösen Demiurgen wusste Marcion eine stichhaltige Antwort auf das Theodizee-Problem vorzubringen. Ein erheblicher Teil der Anziehungskraft gnostischer Kirchen mag auf diesen Umstand zurückzuführen sein.

Durch natale Enthaltsamkeit soll nach Marcion dem bösen Schöpfer der Welt getrotzt werden. Kinderlosigkeit würde bewirken, daß sein Herrschaftsbereich nicht größer wird. Daß die Strenggläubigen der Kirche Marcions gelobten, sich nicht fortzupflanzen, bedeutete freilich eine Erschwernis für das Wachstum ihrer Gemeinden. Wachsen konnte diese Kirche nur durch die Gewinnung neuer Mitglieder, nicht aber aus sich heraus.

Da die ganze Welt als schlecht galt, wurde als Gläubiger nur in die Kirche aufgenommen, wer sich vom sündigen Fleisch und der schlechten Materie befreien wollte. Die Ehe galt als eine vom Demiurgen sanktionierte Satzung, durch die er für die Erhaltung seines Reiches sorgte. Fortpflanzung hätte immerfort neue Menschen in die Welt gebracht und jedesmal einen Teilsieg des bösen Prinzips bedeutet. Mit der Weitergabe menschlichen Lebens würde man den Bereich des Weltschöpfers vergrößern, also – in späterer Begrifflichkeit – dem Teufel in die Hände spielen. Adolf von Harnack (1851–1930, dem wir die Monographie MARCION – Das Evangelium vom fremden Gott verdanken) gibt Marcions Lehre so wieder: „Man soll diesen üblen Gott ärgern, ihn reizen, ihm trotzen und ihm dadurch zeigen, daß man nicht mehr in seinem Dienste steht, sondern einem andern Herrn angehört. Der entschlossene Verzicht auf die Geschlechtlichkeit ist also bei Marcion nicht nur ein Protest gegen die Materie und das Fleisch, sondern auch ein Protest gegen den Gott der Welt und des Gesetzes.“[17]

Marcions religiöse Welterschließung erinnert in manchem an die buddhistische Lehre. Wie Jahrhunderte zuvor im fernen Osten dem Buddha, erscheint Marcion die Welt als eine jämmerliche Tragikomödie. Mit dem bedeutenden Unterschied, daß die Welt dem Buddha nur Natur ist, während sie Marcion als – verfehlte – Schöpfung gilt. Dieser Unterschied bedeutet, daß Marcion sich in Anbetracht der Einrichtung der Welt empören kann, während dem Buddhismus Empörung über die schlechte, aber an sich indifferente Welt nur die Außenprojektion einer übermäßigen Ich-Verhaftung ist.

Der Schweizer Theologe Walter Nigg (1903–1988) meint, Marcion nehme „mit seiner Weltverlästerung den ganzen modernen Pessimismus vorweg.“[18] Bei derlei Vergleichen von Lehren der religiösen Gnosis mit modernen Erscheinungen ist jedoch Umsicht geboten: Denn anders als Marcion und die religiöse Gnosis hat es der moderne Pessimismus und insbesondere der moderne Antinatalismus – wie er vielleicht erstmals in Gestalt von KURNIG auftritt – wieder mit einer indifferenten Welt zu tun.

Lassen Sie mich an dieser Stelle nochmals kurz zu Jonas zurückehren, über den ich – bewusst übertreibend – ausgeführt hatte, dass seine Ontologie unbedingten menschheitlichen Seinsollens gleichsam als onto-theologische Sühne für seine ursprüngliche Begeisterung durch die gnostischen Lehren gelesen werden kann. Dieser überzogene Gedanke zu Jonas eröffnet aber immerhin die Möglichkeit zu dem Befund, dass –anders als Hans Blumenberg in seinem Buch „Die Legitimität der Neuzeit“ behauptet – in der Neuzeit eben doch noch keine endgültige Überwindung der Gnosis gelungen war. Blumenberg schreibt: „die Neuzeit ist die zweite Überwindung der Gnosis. Das setzt voraus, daß die erste Überwindung der Gnosis am Anfang des Mittelalters nicht gelungen war.“[19] Läge die Legitimität der Neuzeit wirklich darin, die Gnosis überwunden zu haben, so hätte sie eine Anthropodizee hervorgebracht haben müssen. Dann aber hätte es der Arbeit an der Ontologie menschheitlichen Seinsollens bei Jonas nicht bedurft.

Seit dem Scheitern der Theodizee im Denken von Voltaire bis Schopenhauer und in Ermangelung einer Anthropodizee wurde der gnostische Ruf nach einem Verebben der Menschheit sogar eher lauter denn leiser. Dies gilt gerade auch mit Blick auf den unter dem Pseudonym KURNIG schreibenden Autor. KURNIG gehört mutmaßlich zu den Ersten, oder ist der Erste, der in einer Monographie einen von der Überlieferung metaphysischer Willensmetaphysiken bereinigten modernen Antinatalismus vorstellt und im gleichen die gnostische religiöse Tradition auf ein neues säkulares Niveau stellt und damit für diesen Bereich die Arbeit der Philosophie als des Gehirns der Religion gleichermaßen zu einem Abschluss bringt wie auch einen neuartigen Ausgangspunkt darstellt.

Nicht zuletzt der Umstand, dass wir diese Thematik heute miteinander erörtern wollen, belegt, dass die Neuzeit nicht uneingeschränkt als die zweite und gelungene Überwindung der Gnosis gesehen werden kann.

Literatur

Akerma, Karim, Verebben der Menschheit? Neganthropie und Anthropodizee, Freiburg 2000

Akerma, Karim: Morgenländische Niegewesenseinswünsche – eine Eloge auf Omar Chayyam. In: tabularasa – Zeitung für Gesellschaft und Kultur, 5. Mai 2013. Online unter: https://www.tabularasamagazin.de/morgenlaendische-niegewesenseinswuensche-eine-eloge-auf-omar-chayyam/

Akerma, Karim: Existenzgeld – für ein nativistisches Einkommen. In: tabularasa – Zeitung für Gesellschaft und Kultur, 15. April 2013. Online unter: https://www.tabularasamagazin.de/existenzgeld-fuer-ein-nativistisches-einkommen/

Akerma, Karim: Kurnig and his Neo-Nihilism: The First Modern Antinatalist, in: K. Lochmanová (Ed.) History of Antinatalism, 2020, S. 125–145

Al-Ma’arri: The Meditations of Ma‘arri. Chapter II in: Studies in Islamic Poetry, hrsg. von Reynold Alleyne Nicholson, Cambridge University Press Library Edition 1969

Assmann, Jan: Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, München 2018

Attar, Farid: Buch der Leiden, Beck 2018

Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit, Ff/M 1966

Blumenberg Hans: Selbsterhaltung und Beharrung, in: Hans Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung, Ff/M 1996, S. 144–207

Feuerbach, Ludwig: Anthropologischer Materialismus, ausgewählte Schriften Bd. 1, Ullstein 1985

Flasch, Kurt: Logik des Schreckens, Mainz 1990

Giraud, Théophile de: La grande supercherie chrétienne. De l’oubli que le christianisme des origines était un antinatalisme, Cactus Inébranlable éditions 2019

Harnack, Adolf von: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Darmstadt 1960

Hegel, G.W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 2, Werke Bd. 17, Ff/M 1986

Jacob, Peter: Lieber Herr Jacob. Oder vom Glück, nicht geboren zu sein. Eine allgemeine pessimistische Weisheit und ihre Geschichte, Tübingen 1999

Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Piper 1983

Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Ff/M 1984

Jonas, Hans: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Insel 2008

Jones, David Albert: The soul of the embryo, Continuum, London-New York 2004

Kermani, Navid: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2011

Marx, Karl: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1981

Nigg, Walter: Das Buch der Ketzer, Zürich 1949

Pagels,Elaine: The Gnostic Gospels, Vintage Books 1989

Schoeps, Hans-Joachim, Gesammelte Schriften, Abteilung 1, Band 2, Georg Olms Verlag, Hildesheim 2007

Sitzler, Dorothea: Vorwurf gegen Gott. Ein religiöses Motiv im Alten Orient (Ägypten und Mesopotamien), Wiesbaden 1994

Sombart, Werner: Die Juden und das Wirtschaftsleben ,München/Leipzig 1922

Tschechow, Anton: Krankenzimmer Nr. 6, in: Meistererzählungen, Rütten & Loening, Berlin 1990, S. 268–333

Vilar, Esther: Die Erziehung der Engel, Düsseldorf/Wien 1992

Weber, Max: Das antike Judentum (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III), Tübingen 1988

Wildgans, Anton: Dies irae, Staackmann Verlag, Leipzig 1919

Vollmer, Wilhelm: Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker, Hoffmann’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1874


[1] Die Einladung erfolgte durch Herrn K., der einen studentischen Lektürekreis zum Buch Kohelet / Prediger des Alten Testaments leitet.

[2] „Je l’avoue, la seule idée d’un enfant qui demanderait à naître a quelque chose de troublant, et je comprends mieux le prophète Jérémie déplorant que sa mère ne fût pas demeurée grosse de lui éternellement, sans pouvoir jamais l’enfanter.“ (Bloy, Léon. Exégèse des lieux communs, eingesehen am 18.8.12 unter: http://fr.wikisource.org/wiki/Ex%C3%A9g%C3%A8se_des_Lieux_Communs/Lieux_Communs#viii) Hiermit wird Bezug genommen auf das 20. Buch des Jeremias, wo es heißt: „17 Dass du mich doch nicht getötet hast im Mutterleibe, dass meine Mutter mein Grab gewesen und ihr Leib ewig schwanger geblieben wäre!“ Damit findet sich bei Bloy folgende interne axiologische Differenzierung: Besser gottnah als intrauterin, besser intrauterin als geboren.

[3] Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker, S. 225.

Sind es nur 600000 Seelen, die den Guf bewohnen, so war es in der Tat schon immer unmöglich, das Glück zu haben, nicht geboren zu werden.

[4] Alternativ wird Adam als Schatzhaus (im Sinne von Vorratskammer) aller Seelen, die Sammelseele, bezeichnet. Vgl. Hans-Joachim Schoeps, Gesammelte Schriften, Abteilung 1, Band 2, S. 99 Anm. 2. Zu Guf/Arabot siehe auch Jones, The soul of the embryo, S. 96f.

[5] Vgl. Wikipedia-Eintrag „Guf“ unter http://de.wikipedia.org/wiki/Guf, gelesen am 10.12.12.

[6] Siehe ausführlich etwa die Studie von Peter Jacob.

[7] Für Näheres zum Antinatalismus im Christentum siehe mein Verebben der Menschheit? (S. 90–101) sowie insbesondere Th. de Girauds bedeutende Studie La grande supercherie chrétienne.

[8] Zu Kurnig (ein Pseudonym) siehe mein Antinatalismus. Ein Handbuch, S. 396ff sowie meinen Beitrag Kurnig and his Neo-Nihilism: The First Modern Antinatalist, in: K. Lochmanová (Ed.) History of Antinatalism, 2020, S. 125-145.

[9] Vgl. hierzu Sitzler, S. 35.

[10] Vgl. Sitzler, S. 52.

[11] Für Chayyam siehe meinen Beitrag Morgenländische Niegewesenseinswünsche – eine Eloge auf Omar Chayyam. In: tabularasa – Zeitung für Gesellschaft und Kultur, 5. Mai 2013. Online unter: https://www.tabularasamagazin.de/morgenlaendische-niegewesenseinswuensche-eine-eloge-auf-omar-chayyam/

[12] The Meditations of Ma‘arri. Chapter II in: Studies in Islamic Poetry, hrsg. von N. A. Nicholson, Cambridge University Press Library Edition 1969 S. 63, 74, 90, 139.

[13] Siehe meinen Beitrag Existenzgeld – für ein nativistisches Einkommen. In: tabularasa – Zeitung für Gesellschaft und Kultur, 15. April 2013. Online unter: https://www.tabularasamagazin.de/existenzgeld-fuer-ein-nativistisches-einkommen/

[14] Insbesondere für Attar ist aufschlussreich: Navid Kermani, Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2011.

[15] Eine gewisse gnostische Tendenz John Miltons (1608–1674) könnte Jonas entgangen sein: Der Dichter von Das verlorene Paradies lässt das erste Menschenpaar eine metaphysische Revolte anzetteln. Er lässt Adam gegen Gott klagen, dieser habe ihm unerträgliche Existenzbedingungen zugemutet, ohne dass er, Adam, je gefragt worden wäre. Und vor allem: Milton lässt seine Eva den Gedanken vorbringen, angesichts bevorstehender Übel sei es doch besser, die Fortpflanzung insgesamt einzustellen. Für Näheres siehe meinen Beitrag Theodicy shading off into Anthropodicy in Milton,Twain and Kant, unter https://www.tabularasamagazin.de/theodicy-shading-offinto-anthropodicy-in-miltontwain-and-kant/

[16] Im Unterschied zu Jonas geht Hans Blumenberg – wie mir scheint: unberechtigterweise – davon aus, dass in der Neuzeit eine endgültige Überwindung der Gnosis gelang. Darauf komme ichweiter unten zurück.

[17] Harnack, a. a. O., S. 149.

[18] Nigg, S. 66.

[19] Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 78.

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