Philosophische Anthropologie und Antinatalismus

Im Geiste der Neo-Gnosis von F. Rosenzweig zu P. W. Zapffe (Stand: 19.8.2023)

Als Ahnvater des Existentialismus entfaltete Kierkegaard (1813-1855) eine Wirkmächtigkeit, die sich bis in die Formulierungen des gnostischen Antinatalismus bei P. W. Zapffe hinein erstreckt. In seinem Buch DER BEGRIFF DER ANGST präsentiert Kierkegaard den Menschen als eine hochproblematische „Synthese“ aus Seele, Leib und Geist. Erst als Geistwesen kenne der Mensch Angst, die bei Kierkegaard einer Vielzahl an Konstellationen korreliert. So antworte der freiheitsbegabte Mensch auf das heranrückende künftig Mögliche – wodurch wir zuallererst so etwas wie eine Welt haben – mit ANGST. Wo Sartre sagen wird, wir seien zur Freiheit verurteilt, verortet Kierkegaard die Weltangst in der Angst vor der Freiheit. Auf Zapffe vorausweisend korreliert Angst vor dem In-der-Welt-Sein bei Kierkegaard bereits der – scheinbar – addressatenlosen Anklage, dass keine Person befragt wurde, ob sie zu existieren beginnen wolle. Diese Anklage ist nur scheinbar addressatenlos. Denn sie lässt sich folgendermaßen reformulieren und mit einem Addressaten versehen: Willst Du wirklich so handeln, dass ein der Weltangst verfallenes Wesen zu existieren beginnt, das sich fragt, warum es zu existieren beginnen musste? Interessanterweise ist für Kierkegaard bereits der Geburtsvorgang eine Angst-konstituierende Konstellation.

Aufs Ganze gesehen erschließt Kierkegaard die Angst als Angst vor dem In-der-Welt-sein in einer auf Heidegger vorausweisenden Weise. Vor Heidegger stellt bereits Oswald Spengler (1880-1936) Angst, Sein und Zeit in einen Verweisungszusammenhang. In seinem 1917 erschienenen UNTERGANG DES ABENDLANDES handelt Spengler vom Urgefühl der Angst, welches auch er in einen perinatalen Kontext stellt: „In der Gegenwart fühlt man das Verrinnen; in der Vergangenheit liegt die Vergänglichkeit. Hier ist die Wurzel der ewigen Angst vor dem Unwiderruflichen…, vor der Welt selbst als dem Verwirklichten, in dem mit der Grenze der Geburt zugleich die des Todes gesetzt ist.“

1921 erscheint Franz Rosenzweigs (1886-1929) Werk DER STERN DER ERLÖSUNG. Ein Buch, das mit der Todesgebürtlichkeit des Menschen anhebt, sich dann aber – anders als Heidegger 1927 in Sein und Zeit – in der Sphäre von Glauben und Wunder auslebt und Weltversöhnung findet.

Im Anfang von DER STERN DER ERLÖSUNG steht der im Weltall gottverlassene Mensch, dessen Grundbefindlichkeit wiederum diejenige der Angst ist:

„VOM TODE, von der Furcht des Todes, hebt alles Er-
kennen des All an. Die Angst des Irdischen abzuwer-
fen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen
Pesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philoso-
phie. Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes,
jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen
Grund,
denn sie mehrt das Sterbliche. Ohne Aufhören
gebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde, und
ein jedes ist dem Tode verfallen, jedes wartet mit
Furcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins Dunkel.
Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der Erde.
Sie reißt über das Grab, das sich dem Fuß vor jedem
Schritt auftut. Sie läßt den Leib dem Abgrund verfallen
sein, aber die freie Seele flattert darüber hinweg.“

Indem die Philosophie die Angst ums Diesseits mittels ihrer Denkarbeit lebbar macht, leistet sie eine Anthropodizee: eine Verteidigung der Weiterführung des Gattungsprojekts in Anbetracht von Neganthropie. Gegen diese philosophische Anthropodizee begehrt Rosenzweig auf:

„Mag der Mensch sich wie ein Wurm in die Falten der nack-
ten Erde verkriechen vor den herzischenden Geschos-
sen des blindunerbittlichen Tods, mag er es da gewalt-
sam unausweichlich verspüren, was er sonst nie ver-
spürt: daß sein Ich nur ein Es wäre, wenn es stürbe, und
mag er deshalb mit jedem Schrei, der noch in seiner
Kehle ist, sein Ich ausschreien gegen den Unerbittli-
chen, von dem ihm solch unausdenkbare Vernichtung
droht – die Philosophie lächelt zu all dieser Not ihr lee-
res Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger
das Geschöpf, dem die Glieder in Angst um sein Dies-
seits schlottern, auf ein Jenseits hin, von dem es gar
nichts wissen will. Denn der Mensch will ja gar nicht
irgend welchen Fesseln entfliehen; er will bleiben, er
will – leben.“

Rosenzweig sagt, „jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen
Grund, denn sie mehrt das Sterbliche.
“ Und er kennt den Sterblichkeitsprotest aller Sterblichen: Der Mensch „will bleiben, er will – leben.“ Gleichwohl denkt er offenbar keinen Augenblick daran, zu fordern, die angstmehrenden Geburten, die Hervorbringung weiterer Sterblicher, einzustellen, sondern flüchtet vor dem „Giftstachel des Todes“ konventionell in das biblisch verbürgte Religiöse. Rosenzweig versäumt es, den Sterblichkeitsprotest als Daseinsprotest zu lesen – das vorherrschende Elterntabu lässt eine solche Wendung nicht zu. In welchem Ausmaß Rosenzweig dem Elterntabu verfallen ist, davon zeugt folgende Formulierung:

„…jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche. Ohne Aufhören gebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde…“

Hier ist das Elterntabu dermaßen dominant, dass es zunächst scheint, als würden neue Menschen durch subjektlose Geburten hervorgebrat, nicht aber durch Gebärende und – Eltern! Um diese Eltern nicht beim Namen nennen zu müssen, erklärt Rosenzweig schließlich elternentlastend die Erde zur großen Gebärerin.

Interessanterweise und auf diese Weise unterschwellig mit einem antinatalistischen Strom kommunizierend, evoziert Rosenzweigs Sprache – dem prädominanten Elterntabu zum Trotz – das Weltgefühl der Gnosis, wie es Hans Jonas in seinem Werk DIE BOTSCHAFT DES FREMDEN GOTTES zur Darstellung gebracht hat, wo Jonas summarisch ausführt: „Angst als Antwort der Seele auf ihr In-der-Welt-Sein ist ein stehendes Thema der gnostischen Literatur.

1928 erscheint von Max Scheler (1874-1928) DIE STELLUNG DES MENSCHEN IM KOSMOS, worin der Mensch als der große Neinsager vorgestellt wird, insofern er sich von der ihn bedrängenden Wirklichkeit zu distanzieren vermag. Allein der Mensch vermöchte es, die „Angst des Irdischen“ zu beseitigen (man beachte, dass die Weltangst für Kierkegaard ein „Privileg“ des Menschen war). Alle Wirklichkeit sei ein „hemmender, beengender Druck und die ‚reine‘ Angst (ohne jedes Objekt) ihr Korrelat.“ Im Unterschied zum Tier agiere der Mensch als „der ‚Asket des Lebens‘, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit.“ Aufgrund seiner WELTOFFENHEIT – „der prinzipiellen Abschüttelung des Umweltbannes“ – könne der Mensch gar nicht anders, als seine Welt zur Umwelt zu distanzieren und festzulegen. Der Weltoffenheit des Menschen korreliere sein hypertrophierendes Gehirn, sodass er für Scheler geradezu „ein Sklave seiner Gehirnrinde“ ist. Auch wenn es der Mensch bei Scheler zum großen Neinsager und zum Daseinsprotestanten gebracht hat, scheint Scheler das Konzept eines anthropologisch fundierbaren Durchbruchs zu künftigem Nichtseinmüssen von Menschen in der Welt verschlossen geblieben zu sein.

Für die philosophische Anthropologie wird dieser Durchbruch erst von P. W. Zapffe (1899-1990) in seinem Beitrag DER LETZTE MESSIAH (1933) eingeholt. Trotz einer augenfälligen neo-gnostischen Formensprache verhandelt Zapffe darin Themen der philosophischen Anthropologie: Aufgrund seiner prinzipiellen Weltoffenheit erfahre sich der Mensch als kosmisch heimatlos und angsterfüllt. Grund hierfür sei ein biologischer Überschuss, „die Überentwicklung einer einzelnen Fähigkeit“, die im menschlichen „Bewusstseinsüberschuss“ mit einem korrespondierenden „kosmischen Panikgefühl“ Gestalt angenommen habe. Hier konvergieren die Befunde von Scheler (der Mensch als „Sklave seiner Gehirnrinde“) und Zapffe (der Mensch als Wesen mit Bewusstseinsüberschuss).

Die philosophische Anthropologie beschreibt den Menschen wesentlich als ein biologisches Mängelwesen, welches jedoch in der Lage sei, diese Mängel kulturell, insbesondere mittels Sprache und Technik, überzukompensieren. Demgegenüber diagnostiziert Zapffe beim Menschen eine über jedes kompensierbare Maß hinausschießende Bewusstseins-Mitgift von Natur aus. Wie der prähistorische Riesenhirsch mit seinem überausladenden Geweih in keine baumbestandene Umwelt mehr integrierbar gewesen sein, so rage auch der Mensch wie ein zwar herbeigerufener, zugleich aber nichtgeladener Gast, als ein Wesen mit „exzentrischer Positionalität“ (Helmuth Plessner), aus der Natur heraus, sodass Zapffe fragt: „Warum ist das Menschengeschlecht dann nicht schon längst unter großen Wahnsinns-Epidemien ausgestorben?“

Zapffemacht geltend, unser Fortbestand sei gesichert worden durch eine mehr oder weniger bewusste Verdrängung unseres Überschuss-Bewusstseins mittels vier Schutzmechanismen: 1.Isolation (Kindern spricht man nicht von der Bürde des Daseins); 2. Verankerung (das Elternhaus gewährt Kindern ein Gefühl der Geborgenheit und Schutz vor dem an sich angstgenerierenden Kosmischen – überhaupt sei jede Kultureinheit ein integriertes Verankerungssystem); 3. Distraktion (das auf die eigene Existenz zurückfallende Kind fragt, was es denn jetzt tun solle); Sublimation (Transformation des Lebensschmerzes in Erlebniswerte (etwa die ästhetische oder philosophische Verarbeitung überstandener Krisen. In diesem Sinne versteht Zapffe auch die Abfassung seines Textes selbstreferentiell als Sublimation: „Der Verfasser leidet nicht, er beschreibt Seiten, die publiziert werden sollen“).

Allen vier Schutzmechanismen zum Trotz sieht Zapffes Zukunftsdiagnose düster aus, denn „alle ererbten kollektiven Verankerungssysteme sind von Kritik durchlöchert“ und auch Kommunismus oder Psychoanalyse seien nicht wegweisend – einen Ausweg zur Rettung der Menschheit böte allein „eine bewusste Degeneration auf eine tiefere und glücklichere Lebensstufe…“ Fast meint man, den philosophischen Anthropologen und konservativen Kulturkritiker Arnold Gehlen reden zu hören. Arnold Gehlen zog eine Linie vom Urmenschen bis in die „Spätkultur“ und diagnostizierte in ihr das Brüchigwerden institutionellen Eingebundenseins – mit unausdenkbaren Konsequenzen für den Bewusstseinshaushalt. Werden überlieferte Institutionen mit ihren habitualisierten Verhaltensweisen brüchig, so Gehlens Analyse, kommt es zu ausufernder Subjektivität und zum Durchbruch der Sinnfrage. Letztere zu suspendieren sei aber gerade eine bedeutende Leistung von Institutionen. In der Diagnose Zapffes sei infolge einer „zunehmenden Bevölkerungszahl und Verdichtung der seelischen Atmosphäre“ sogar damit zu rechnen, dass die von ihm analysierten vier „Schutzmechanismen einen immer brutaleren Charakter annehmen.“

Wie ist diese anthropologisch informierte Kulturdiagnose einzuschätzen? Generell versäumt Zapffe es, auf die symbolischen Formen als Medien der menschlichen Weltvermittlung zu sprechen zu kommen. So hatte Ernst Cassirer Mitte der 1920er Jahre in seiner Philosophie der symbolischen Formen den Mythos als Lebens- und Denkform – sowie als überaus erfolgreiche Form der Entängstigung – vorgestellt, die den Menschen schon immer vor einem von Zapffe unterstellten direkten Kontakt mit dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ (H. Blumenberg) bewahrte. Ein unmittelbarer Kontakt mit dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ blieb dem Menschen über Jahrhunderttausende erspart und wurde vielleicht erst von F. Nietzsche radikal aufgesucht. Wurde Nietzsche also wahnsinnig, weil er so etwas wie einen Erstkontakt zum Absolutismus der Wirklichkeit hatte? Wie auch immer – nicht nur Mythos und Religion schützten vor kosmischer Weltangst, sondern, allgemeiner gesprochen, immer auch das (für Zapffe allerdings löchrig gewordene)  Eingebundensein aller Menschen in ein Institutionen- und Wertegefüge. Die Ressourcen der uranfänglichen mythischen Lebensform grundsätzlich unterschätzend, verneint Zapffe die selbstgestellte Frage, ob der „primitive“ Mensch ohne die vier von ihm näher dargelegten Weltangst-Bewältigungsstrategien  habe auskommen können. Den Schelerschen Asketen des Lebens ernster nehmend als Scheler selbst, empfiehlt Zapffe als Ausweg aus der prekären anthropologischen Grundsituation eine umfassende natale Enthaltsameit bis zum Aussterben der Menschheit. Am Ende werde ein Messias auftreten, „der es als Erster wagt, seine Seele… dem höchsten Gedanken des Menschengeschlechts hinzugeben, der Idee des Untergangs.“ Während Nietzsche einen ähnlichen Gedanken fasste, diesen aber als Opfer ausbuchstabierte, konzipiert Zapffe das Ende der Menschheit Anti-Nietzscheanisch als Erlösung: „Aber es gibt einen Sieg und eine Krone, eine Erlösung und eine Antwort – erkennt Euch selbst – seid unfruchtbar und lasst nach Euch Stille einkehren auf der Erde.“  markiert Zapffe für die Traditionslinie der philosophischen Anthropologie einen bedeutenden Fortschritt im Bewusstsein des Nichtseinmüssens von Menschen. Womit er wiederum auf ein urgnostisches Motiv rekurriert. Denn bereits der „gnostische Ruf“ zieht den Menschen von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs fort:  So ist in gnostischen Texten davon die Rede, dass Adam von Eva verführt wurde „auch zur Fortpflanzung, der schrecklichsten Erfindung in Satans Strategie.“ (Jonas, Die Botschaft des fremden Gottes) Adam sei zunächst vor einer Annäherung an Eva gewarnt worden, „wird aber von ihr mit Hilfe der Dämonen später doch verführt, und so beginnt die Kette der Fortpflanzung, die zeitliche Verewigung des Reiches der Finsternis.“ (Ebd.)

[Stand: 19.8. 2023]

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